: »Mit der Kündigung wird dat nix werden«
■ Ein besonderer Tag am Potsdamer Arbeitsgericht: Keiner der klagenden Arbeitnehmer verliert seinen Job/ In einem winzig kleinen Raum thront Richter Przybyla und fällt ohne Verzug im Halbstundentakt und charmant lächelnd seine Urteile
Potsdam. Ursprünglich sollte es eine Reportage aus dem Strafgericht werden: Ein Tag beim Einzelrichter; Geschichten über Gesetze, welche die Potsdamer am liebsten brechen. Doch daraus wird nichts. Es stehen keine Strafprozesse an in den nächsten zwei Tagen. Da das Potsdamer Kreisgericht nur über zwei Protokollführerinnen verfügt, können auch nur zwei Richter gleichzeitig verhandeln. Die Strafrichter sind in den nächsten zwei Tagen nicht dran. Dafür tagt das Arbeitsgericht unter Vorsitz des Richters Joachim Przybyla. Schön, dann eben: Ein Tag im Leben von zehn Angestellten — Warum Potsdamern gekündigt wird.
Unser Ehren Przybyla tagt in einem winzig kleinen Raum, der mit den notwendigsten Möbeln vollgestopft ist: Ein Podest, auf dem die Richtertische für Przybyla und die beiden ehrenamtlichen Richter Herrn Wolpert, Verwaltungsbeamter, und Frau Pappendorf, Agraringenieurin, stehen. Die Justizangestellte hat sich an die rechte Seite gedrückt. Vor dem Podest zwei Tische für Kläger und Beklagte, und neben der Tür rechts und links je vier Stühle. Wer unter Platzangst leidet, sollte auf einen Arbeitsprozeß verzichten.
Richter Przybyla ist gebürtiger Oberschlesier und arbeitete in Aachen, bevor er im Januar 1991 nach Potsdam ging. Sein Dialekt liegt zwischen Tegtmeier und Millowitsch. Er lächelt viel, ist jovial und charmant, und hat die Parteien im Griff. Ohne Ausnahme. Erste Verhandlung: Stadtverwaltung Beelitz gegen Frau F., Leiterin eines städtischen Kindergartens. Frau F., 49 Jahre, arbeitete seit 1964 für die Stadt. Im August 1991 kündigte ihr die Stadtverwaltung, mit der Begründung, 14 der 17 Mitarbeiter des Kindergartens hätten gedroht: entweder die oder wir. Frau F. ist noch immer schockiert: »Ich kam aus dem Urlaub, mußte meinen Schlüssel abgeben und wurde aus dem Dienst entlassen wie der letzte Strolch.« Sie ist bereit, die Kündigung anzunehmen, falls ihr Genugtuung in Form einer Abfindung zuteil wird. Sie nennt ein schönes Sümmchen. Bürgermeister Thomas Wardin, der für die beklagte Stadt erschienen ist, winkt leise lächelnd ab, doch da erschallt es vom Podest: »Isch fürschte, mit der Kündigung wird dat nix werden. Bei der langen Betriebszugehörischkeit wäre nicht mal eine Abmahnung ausreichend gewesen.« Przybyla hat sich gemütlich in seinen Stuhl zurückgelehnt und grinst. Sing Vogel oder stirb. Wardin erblaßt. Er hat überhaupt nicht abgemahnt. Ein kurzer Hinweis des Richters auf ein Gesetz, wonach Frau F. möglicherweise sogar das Doppelte verlangen könnte, anschließend ist die Stadt Beelitz um 16.200 Mark ärmer.
Nächste Runde: Herr S. gegen die Prezisa Wohnungsgesellschaft. Herr S., 48, war vor seiner Entlassung Sachbearbeiter in der Abteilung Instandhaltung. Jetzt soll er sich zu einem Schriftsatz der Prezisa äußern. Herr S. blättert unschlüssig in seiner Akte und sagt: »Ist schon verwunderlich, ist schon verwunderlich.« Przybyla: »Wat denn?« Herr S. fängt sich und legt los. Sechs Jahre sei er Inspektor der Technischen Überwachung (der TÜV der ehemaligen DDR) gewesen, fünf Jahre technischer Leiter in einem 200-Mann-Produktionsbetrieb und schließlich Zivilbeschäftigter in der Armee: »Ich betrachte es als große Schweinerei, wenn jetzt der Herr Zinke meine Arbeit übernehmen soll«, sagt er und klopft zwecks Unterstreichung auf den Tisch.
Herr Zinke, stellt sich heraus, ist Gatte der Bürgermeisterin von Neuseddin. Die Stadt ist Eigentümerin der von Prezisa verwalteten Wohnanlagen. Ein abgekartetes Spiel? Geht es bei Zinkes etwa zu wie bei den Süssmuths? Przybyla hakt leider nicht nach, da die Entlassung ohnehin nicht begründet sei. Die Anwältin der Prezisa wehrt sich heftig und vergeblich. Auch die Post muß sparen und hat deshalb die Briefträgerin K. entlassen. K. ist 29 Jahre alt, verheiratet, hat ein Kind und arbeitet seit 13 Jahren bei der Post. Przybyla erkundigt sich nach jüngeren Kolleginnen. »Frau Schü.« sagt Frau K. erstaunt. Die sei ledig, habe kein Kind und sei erst drei Jahre bei der Post. »Dann können sie dat wohl vergessen mit der Kündigung«, erklärt Przybyla fröhlich. Fehlerhafte Sozialauswahl. »Und wat machen wir nun?« Wiedereinstellen natürlich. Hallo Frau K, auf Wiedersehen Frau Schü. Im halbstündigen Takt wechseln Kläger und Beklagte. Bei Przybyla gibt es keinen Verzug. Aufgerufen wird Sch. gegen das Land Brandenburg. Frau Sch. arbeitet als Telefonistin 30 Stunden in der Woche für das Land. Monatlich verdient sie damit 600 Mark netto. Die angekündigte Entlassung trifft sie hart. Sie ist eingeschränkt erwerbsfähig, hat drei Kinder und bezieht 900 Mark Rente. »Ich versteh' nicht, daß sie mich rausgeschmissen haben, wo ich doch arbeiten kann. Und dafür ham sie jetzt ne Blinde eingestellt. Ich hab' nüscht gegen Blinde, aber ich versteh's nicht.« Frau Sch. weint, und die Vertreterin der Gegenseite beteuert bestürzt, daß Land habe nur ihr Bestes gewollt. Auch dieser Fall ist schnell erledigt. Frau Sch. darf weiterarbeiten. Um 14 Uhr ist alles vorbei. Die nächsten Verhandlungen finden in einer Woche statt. Sofern keine der zwei Protokollführerinnen einem Hitzeschlag erliegt, geht es nächste Woche weiter. Anja Seeliger
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