: Es geht um Sex
Über Pablo Picasso: „Liebe und Tod — Die letzten graphischen Blätter“, eine Ausstellung in Duisburg ■ Von Christoph Danelzik
1970 — das war kurz nach der sexuellen Revolution. Vereinzelt schlossen sich ihr auch KünstlerInnen an. Niki de Saint Phalles Nana-Museum erregte Aufsehen, weil es durch eine Vagina zu betreten war, und Robert Indiana kreierte sein immergrünes Love- Signet. Am ausführlichsten widmete sich diesem jugendlichen Thema ein alter Mann: Pablo Picasso.
Wie andere Leute zum Frühstücksmesser, so griff Picasso zur Radiernadel. Im Lehmbruck- Museum ist das Ergebnis seiner Raserei zu bewundern, eine Strecke von 156 Blättern, entstanden in zweimal fünf Monaten 1970 und 1971, mit einem Nachklapp im Juni 1972.
Picasso war weder rekordversessen noch wollte er sein Inneres kurz vorm Tod auskehren; in Zyklen zu arbeiten und in Mengen zu produzieren war für ihn ein gewöhnliches Verfahren, Clouzots Film Le Mystère Picasso gewährt einen Einblick in des Meisters Arbeitsweise.
Während Zyklen häufig ein Thema systematisch behandeln, verzichtet der in Liebe und Tod Präsentierte auf solche Ordnung; es ist wie in einem Wald: alle Bäume unterscheiden sich voneinander, ihre Position ist zufällig und doch bilden sie ein Ensemble. Eine Kunstausstellung ist kein Wald, eher eine Plantage mit Spalierobst; der Ausstellungsraum im Anbau des Lehmbruckmuseums bietet den denkbar größten Kontrast zu Picassos erotischen Salonphantasien. Anfangs entmutigt ein Rundumblick auf die gleichmäßig behängten Wände, sie lassen an ein Buch denken, dessen Seiten gerahmt ausgestellt werden. Eine Randerscheinung unterstreicht diese Diskrepanz zwischen Präsentation und Sujet: Picasso verrzichtete weitgehend darauf, die Bilder zu titeln und bezeichnete sie einfach mit ihren Entstehungsdaten. Weil er auch Umarbeitungen vermerkte, erinnern die Schildchen neben den Bilden mit ihren Zahlenketten an technische Notizen; eine Ausstellung wird als Versuchsreihe präsentiert.
Mit dem Tod hat die Serie nichts zu schaffen. Anfangs hieß sie schlicht „156 graphische Blätter“. Der Ausstellungstitel suggeriert eine in Bildern nicht wirksame Transzendenz. Picasso ersparte sich im Gegenteil die „Letzte Worte“-Attitüde. Bleibt vom Ausstellungstitel die „Liebe“ übrig? Zweifel sind auch hier angebracht. Immerhin stellt sich die Bilderschau in den Rahmen der Duisburger Akzente mit ihrem Motto „Über die Liebe, Eros, Sexus und die Gesellschaft“.
Im Blatt Nr. 16 (19.2.70) drängen sich die Figuren in einem durch Arkaden sparsam angedeuteten, phantastischen Saal. Unübersehbar liegt oder hockt eine nackte Frau in der Mitte. Sie trägt ihr Haar hochtoupiert, ist mit Geschmeide geschmückt und nackt bis auf die Pumps. Ihre umflorten Schamlippen reibend, starrt sie nach rechts, in ein Quodlibet von Männerköpfen. Die meisten tragen Zylinderhüte. Ihre Gesichter sind beinahe reine Ornamente, ihre Augen blicken nicht, vielmehr setzen Linien und Flecke Chiffren zusammen, die an Gesichter erinnern. In dieser Gruppe fällt ein mit einer an Sgt. Pepper erinnernden Uniformjacke und mit weiten Stiefeln bekleideter Mann auf. Aus seinem nackten Unterleib wächst ein runder sexy Slip heraus, die Beinbehaarung ist in einer feinen Arabeske aufgelöst. Im Bild befinden sich zwei weitere nackte junge Frauen und die dekolletierte Büste einer älteren Dame. Ganz links schließlich läßt sich aus mehreren Einzelteilen ein Künstler zusammensetzen, der eine Aktzeichnung anfertigt. Offensichtlich ist der Kontrast in der Rollengestaltung: während die Frauen die Männer mit ihrer Nacktheit reizen, dürfen sie distanziert zuschauen. Selbst den sexy Mann beachten seine Geschlechtsgenossen nicht, bisexuelle Erotik wird zwar provoziert, aber nicht präsentiert.
So distanziert, wie es ihr Habitus signalisiert, sind die zylindertragenden Zuschauer nicht — die Kapriolen ihrer Gesichter zeigen es. Die ältere Dame taucht in anderen Blättern besser zu identifizieren als Puffmutter und Kupplerin auf. Leicht erkennbar beim Vergleich mit den übrigen Blättern entpuppt sich schließlich die surreale Zweiteilung des Künstlers als Ausformung zweier Prinzipien; der Kopf als nüchterne Umrißzeichnung betont seine unbeteiligte Beobachtung, während sein schraffierter Leib sich erregen läßt und die Ausführung der Zeichnung oder Malerei übernimmt. 19.2.70 pendelt also zwischen dem Ausdruck sexueller Provokation und Erregung und zweifacher Reflexion über erotische Kunst: Im Auftritt des Künstlers und in der Verwendung traditioneller Prostituierten-Motive. Als roter Faden durchzieht diese Mischung die gesamte Serie.
Liebe spielt in diesen Bildern nicht mit, um Sex geht es in ihnen. Dieser Sex ist eindeutig und einseitig, die Reproduktion des männlichen Voyeurismus. In vierzig Blättern spielt Picasso das Motiv des zuschauenden Malers Edgar Degas durch. Picasso besaß einige von dessen Arbeiten, wenig erotische Bordellszenen. Er begann, sie zu variieren und rückte die Figur des Degas in sie ein. Da steht er nun, in seinem Bratenrock und scheint weit entfernt von den sich lustvoll gebenden Huren, die er betrachtet und zeichnet. Degas besitzt einen Widerpart in der Figur des Rembrandt. Der ist Picassos Liebling. Wenn Rembrandt den Frauen zuguckt, steigt ihm die Freudenröte in die Bäckchen; und die Kurven und Wirbel in seinem Gesicht spiegeln die behaarten Schamlippen: In Nr.101 konkurrieren die Köpfe beider Typen miteinander, der coole „Degas“ am rechten Bildrand, während „Rembrandt“ einer Frau mit zwei Gesichtern auf den Leib rückt, der unbefangen Scheide und eine winzige Afteröffnung zeigt.
Picasso widmet sich nicht allein dem Voyeurismus in Gestalt des Künstlers, er paraphrasiert auch Werke seiner Kollegen. Am Beispiel von Rembrandts Ecce homo zeigt er das Bild hinterm Bild, indem er das Zurschaustellen am Pranger in die sexuelle Sphäre transformiert. Gelegentlich greift er Einzelmotive heraus, beispielsweise die selbstverständlich häßliche und alte „Kupplerin“ und ihre neuzeitliche Nachfolgerin, die „Puffmutter“. Im übrigen orientiert sich Picassos Zitaten- und Motivschatz an der Kunst des 19.Jahrhunderts, von Ingres und Delacroix bis Manet und Degas. Sein sich die ganze Suite durchziehender Bezug auf Bordellszenen bestätigt den Eindruck, hierbei handele es sich um Kunst über Kunst.
Picasso travestiert seine Vorlagen nicht. Seine Variationen gewinnen ihren Witz also nicht aus dem Vergleich mit ihren Vorlagen. Statt dessen legt er den sexuellen Gehalt frei, der in ihnen unter der künstlerischen Manier verdeckt liegt. Seine Bilder bleiben allerdings der Spähre der Pariser Boheme zu nahe, als daß ihnen der Brückenschlag in die Gegenwart der „sexuellen Revolution“ gelingen könnte.
Was als lebensfroher Alterssex daherkommt, ist mitnichten eine künstlerische Formung überschäumender Triebe. Eine Ahnung davon, weche sexuellen Erfahrungen und geläufigen Vorstellungen Picasso um 1970 hatte und kannte, läßt sich beim Betrachten dieser Bilder nicht gewinnen. Picassos sexuelle Revolution liegt ein Jahrhundert zurück. „Sex und Kunst“ wäre ein genauerer Titel der Ausstellung gewesen.
Diese Ausstellung verdankt sich unter anderem dem Entgegenkommen eines famosen Großmäzens. Ihn einen Katalogbeitrag verfassen zu lassen, dessen Vokabular und Inhalt vor allem „großartig“, „herrlich“ und „beglückend“ ist, mindert das Vergnügen. Als Steigerung der Dankbezeugung läßt sich noch die Aufnahme von ihm selbst gefertigter Kunstwerke ins Museum denken. Der Zirkel wäre grandios vollkommen. Künstler, Stifter und Autor fielen in einer Person zusammen.
Pablo Picasso: Liebe und Tod — Letzte graphische Blätter 1970-1972 , Wilhelm-Lehmbruck-Museum, Duisburg, bis 14.Juni, Katalog 28 DM
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