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Abschiffen in die Idylle

■ Seit Mauerfall ist das tägliche Angebot an Stadt-und Seerundfahrten per Schiff noch größer

Berlin ist eine Wasserstadt. Berlin hat mehr Brücken als Venedig, unzählige Seen und drei Dutzend Inseln und Inselchen. Berlins Wasserstraßen sind stolze 190 Kilometer lang. Kein Wunder also, daß es hier vor allem am Wochenende von Freizeitkapitänen wimmelt, die sich auf einen Ausflugsdampfer setzen und den Hamburgern eine lange Neese drehen: Wir sind größer! Schöner! Besser! Das lokalpatriotische Vergnügen ist ungeteilt, seit die Mauer fiel und den Wasserweg nach Südwesten bis ins Havelland oder über die südostlichen Seen bis nach Woltersdorf oder Ziegenhals freigab.

Eine ganze Anzahl von Schiffahrtsgesellschaften läßt täglich Tausende auf Stadt- und Seenrundfahrten von Land- zu Wasserratten mutieren. Die Reederei Riedel zum Beispiel dampft auf zehn Schiffen von Charlottenburg und Kreuzberg aus unter anderem zum Müggelsee oder über den Tegeler See. Die Reederei ist auch eine Rederei: Der Käpt'n gibt meistens ausführliche historische Schilderungen und manchmal wasserplatte Witzchen zum besten, und wie ein bohrender Ohrwurm klingt noch Stunden nach der Fahrt seine immer gleiche Warnung vor den niedrigen Brücken im Stadtgebiet nach: »Vorsicht auf dem Oberdeck, und immer schön runter mit den Köpfen!«

Wer's gerne romantisch liebt, der sollte sich nicht an den bisweilen vorbeischwimmenden toten Ratten oder Leitern oder Flenspackungen stören und sich bis zur Pfaueninsel tragen lassen. Auf der erotischsten Insel Berlins wachsen Rosen und radschlagende Pfauen, Schilfgewächse und südländische Bananenstauden. Wer viel Zeit hat, kann aber auch morgens an der Kottbusser Brücke zur Acht-Seen-Rundfahrt aufbrechen und nach einer idyllischen Tagesfahrt über den Langen See, den Zeuthener See, den Großen Zug, den Krossin-, Seddin- und Dämeritzsee und den Kleinen und Großen Müggelsee abends seinen Sonnenbrand pflegen.

Andere Reedereien vermieten ihre Schifflein für bierselige Betriebs- und Bordfeste: Die »MS Venus« hat eine eigene Disko an Bord, und die »MS Heiterkeit« verspricht täglich ab Spandau »Erholung und Gemütlichkeit«. Die Reederei Bruno Winkler dagegen treibt ihre fünf großen Schiffe mit bis zu 700 Plätzen mit dem Dampf des preußischen Größenwahns an und nennt sie »Hanseatic«, »Präsident«, »Europa« und gar »Deutschland« und »Vaterland«.

Der DDR-Größenwahn jedoch wurde mit der Übernahme der »Weißen Flotte Treptow« durch die Westberliner »Stern- und Kreisschiffahrt« ausgemerzt, statt »Wilhelm Pieck« oder »Johannes R. Becher« heißen ihre Dampfer nun »Brandenburg« oder »Sachsen«. Die »Stern- und Kreisschiffahrt« konnte sich dadurch mächtig vergrößern und hat nun 39 Fahrgastschiffe mit rund 12.000 Plätzen auf dem Wasser, darunter auch die »Havelqueen«, »Havelstern« und die weiße, walförmige »Moby Dick«.

Von der traditionsreichen Anlegestelle Jannowitzbrücke aus kurven die ehemaligen DDR-Schiffe nun täglich über den Müggelsee oder den Scharmützelsee. Ebenfalls im täglichen Angebot: eine achteinhalbstündige Ausflugsfahrt nach Woltersdorf, historische Stadtrundfahrten und eine dreistündige Fahrt »Unter den Brücken, auf den Kanälen« inklusive Kunsthistoriker an Bord. Und Feuerwasser, Feuer und Wasser auf den samstäglichen »Sommernachtsfahrten«: Mehrere mit Bordbar und Tanzkapelle ausgestattete Schiffe starten von Wannsee, Tegel und Treptow aus und treffen sich gegen 22 Uhr in der Nähe des Strandbads Wannsee, wo sich dann ein Feuerwerk im Wasser spiegeln wird. Für heute gibt es noch Karten, das Schauspiel soll in diesem Jahr aber zum ersten Mal bis zur Silvesterböllerei verlängert werden.

Mit einem Knaller kann aber auch die »Berliner Geschichtswerkstatt e.V.« aufwarten. Unter dem Motto »DT 64 darf nicht untergehen! Auf zu neuen Ufern« startet der Verein am kommenden Samstag, dem 20. Juni, um 19 Uhr ab Jannowitzbrücke zu einer mehrstündigen Stadtrundfahrt. Das Schiff »Elfe« wird die interessierten Fans von DT 64 zum Rundfunkhaus an der Spree und durch insgesamt neun östliche und westliche Bezirke tragen. Kartenvorverkauf: im Schöneberger Büro der Geschichtswerkstatt, Goltzstraße 49, freitags von 15-18 und samstags von 10-12 Uhr, bei den Freunden des Jugendradios oder am Schiff.

Überhaupt: Die verschiedenen historischen Schiffsrundfahrten der Berliner Geschichtswerkstatt gehören zu den lohnendsten, weil fundiertesten. Auf der Fahrt »Ab durch die Mitte« Berlins beispielweise — die nächste wird am kommenden Sonntag, dem 21. Juni, ab Hansabrücke angeboten — werden unter anderem die Vorformen heutiger ABM-Politik erläutert: Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen statt Revolution. Als die ebenso oft arbeitslosen wie militanten Berliner Erdarbeiter, auch »Rehberger« genannt, ob der Französischen Revolution im Jahre 1848 unruhig wurden, sannen die preußischen Machthaber danach, sie so schnell wie möglich von der Straße wegzubekommen.

Alte Pläne zum Bau des Spandauer Schiffahrtskanals, des Landwehrkanals und des Luisenstädtischen Kanals wurden reaktiviert, und Tausende von Arbeitern kamen in Lohn und Brot, bis alle drei Kanäle zwischen 1850 und 1859 eingeweiht wurden. Dem Luisenstädtischen Kanal quer durch die Luisenstadt alias Kreuzberg SO 36 war jedoch nur eine kurze Existenz gegönnt. Als ABM- Projekt wurde er ausgebuddelt, als ABM-Projekt wurde er in der Wirtschaftskrise von 1926 wieder zugeschüttet. Seitdem haben die Kreuzberger den Kanal voll. Ute Scheub

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