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Georgien bleibt ein Pulverfaß

Attentat auf Politiker und Beschuß der Hauptstadt des autonomen Süd-Ossetien trotz eines Waffenstillstands  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Georgien bleibt ein Pulverfaß, zu dem die Lunten aus den verschiedensten Richtungen führen. In der Hauptstadt Tbilissi berichtete am Sonnabend das Präsidiumsmitglied des Staatsrates, Dschaba Iosselani, von einem Sprengstoff-Attentat, das auf ihn kurz vorher verübt worden war. Verschiedenen Quellen zufolge sind dabei zwischen drei und sechs Menschen ums Leben gekommen. Staatsratsvorsitzender Eduard Schewardnadse bezichnete den Vorgang als „kriminellen Anschlag nicht nur auf einen bestimmten Mann, sondern auf die demokratische Entwicklung Georgiens. Gegen uns wird ein systematischer Kampf geführt.“ Der Beschuß der Hauptstadt Zchinval des an der Grenze zu Rußland gelegenen Süd-Ossetien ging am Wochenende weiter; bis Sonntag mittag starben über ein Dutzend Einwohner.

All dies ereignete sich vor dem Hintergrund eines erneuten Waffenstillstands-Abkommens, das Schewardnadse zu Beginn der vergangenen Woche mit der süd-ossetischen Führung abgeschlossen hatte. Es sieht den Einsatz einer multinationalen GUS-Friedenstruppe in der Region und die Arbeit eines ähnlich zusammengesetzten Pressezentrums an der Front vor. Ein Regiment aus Afghanistan-Veteranen soll am Sonntag in die Region verlegt worden sein.

Zwei Jahre Versorgungsblockade und täglich intensiveres Bombardement durch Raketengeschosse, die Kinder auf der Straße und alte Frauen im Bett treffen, unvorstellbar grausame Folterungen von Mitbürgern, die an der Stadtgrenze in Gefangenschaft geraten: das Leben in der von georgischen Panzern umzingelten Hauptstadt Zchinval, sollte man meinen, ist die Hölle. Und doch glauben die Einwohner, daß die Hölle erst richtig beginnen wird, wenn die letzten beiden russischen Regimenter aus dem Stadtgebiet abziehen. Das ist für diese Tage geplant, und dabei soll hochtechnisiertes Kampfgerät vernichtet werden, um von keiner der feindlichen Seiten genutzt zu werden. Ossetische Heckenschützen stehen gorgischen „Grad“-Raketenwerfern gegenüber.

Diese Situation mit einem Streich verändern wollten möglicherweise der Vorsitzende des Obersten Sowjet und der Ministerpräsident von Süd- Ossetien Alan Tschotschiew und Oleg Tessijew, die im ehemals als autonomes Gebiet zu Georgien gehörigen Ländchen (die Osseten in Süd und Nord zählen nicht mehr als eine halbe Million) eine autonome Republik ausgerufen haben. Sie wurden nämlich am Donnerstag in Wladikawkas, der Hauptstadt der zur Russischen Föderation gehörigen Autonomen Republik Nord-Ossetien verhaftet und der Teilnahme am Sturm von GUS-Waffenlagern angeklagt. Am gleichen Tage wurde in Wladikawkas der Ausnahmezustand verhängt. Die örtliche Regierung flog Antiterroreinheiten aus Rußland ein und verminte die Umgebung der GUS-Militärbasen. Kein Wunder, daß viele Osseten die russische Regierung der Doppelzüngigkeit bezichtigen, wenn sie offiziell zum Schutze der Osseten der Republik Georgien mit einer Wirtschaftsblockade droht. Die georgischen bewaffneten Formationen konnten nämlich fast das gesamte GUS-Arsenal auf ihrem Territorium einkassieren. Daß Schewardnadse aber die georgischen Einheiten um Zchinval nicht kontrollieren kann, hat er mehrmals eingestanden. Den Beweis lieferten schon die vorletzten Waffenstillstandsverhandlungen in der süd-ossetischen Hauptstadt, während derer der Stadtteil, in dem sich der georgische Staatsratsvorsitzende aufhielt, von diesen demonstrativ beschossen wurde.

Die süd-ossetische Seite wirft Schewardnadse vor, er dulde die gewaltsame Sabotage seiner außenpolitischen Abkommen, ohne Sanktionen zu ergreifen. Daß dies nicht so einfach ist, zeigte sich vor zehn Tagen, als der Staatsrat in Tbilissi eine Sonderkommission zur Verbrechensbekämpfung bildete. Sondervollmachten, die Schewardnadse aus diesem Anlaß erbat, wurden ihm nicht gewährt. Seit Beginn des Jahres sind im Land vierhundert Menschen spurlos verschwunden, 158 Morde konnten nicht aufgeklärt werden. Die gesamte Bevölkerung ist heute bis an die Zähne bewaffnet, nicht zuletzt die neuentstandenen Armeen, die bis heute nicht in die Kasernen zurückgeführt werden konnten. Seine beiden Stellvertreter, die mit Eduard Ambrosiewitsch als Triumvirat den Staatsrat leiten, stehen jeder an der Spitze eines solchen Heeres. Dschaba Iosselani, Ziel des Anschlags am Wochenende, führt die „Mchedrioni“ (Ritter) an. Die kontrollieren inzwischen die Herstellung und Verbreitung der georgischen Spezialitäten Tee, Wein und Cognac. Die „Nationalgarde“, die Hausarmee des dritten Mannes an der Spitze, des Verteidigungsministers Tengis Kitovani, hat sich des Energiesektors angenommen und verlangt inzwischen 400 Rubel für den Kanister Benzin. Beide Feldherren träumen davon, das künftige Heer des Staates Georgien als Aktiengesellschaft zu begründen — eine Idee, die Eduard Schewardnadse scharf zurückwies. Ob die Forderung des Staatsratsvorsitzenden, unverzüglich alle unregistrierten Waffen zu konfiszieren und die bewaffneten Formationen in die Kasernen zurückzuführen, bei ihnen nach dem Attentat vom Wochenende größere Zustimmung findet? Eduard Schewardnadse hat in letzter Zeit nicht nur seine persönliche Autorität, sondern auch seine politische Zukunft von dem Frieden um Ossetien abhängig gemacht. Wieweit er in dieser Frage ehrlich bleibt, wird sich bald zeigen.

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