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INTERVIEWDer 18.Brumaire Amerikas?

■ Der Autor und Journalist Mike Davis, der selbst in Los Angeles lebt, zur dortigen Situation nach den schweren Unruhen von Anfang Mai

taz: Wie schätzen Sie heute, zwei Monate nach den Unruhen in Los Angeles, die Situation in der Stadt ein?

Mike Davis: Die nächsten sechs Monate werden für South Central Los Angeles, wo die Aufstände begannen, noch mehr an Zerstörung bringen als die Unruhen selbst. Der kalifornische Staat hat ein Milliardendefizit und Gouverneur Pete Wilson will vor allem bei den Schulen und sozialen Diensten einsparen. Da ist die Rede davon, daß allein 400 Millionen Dollar bei den Schulen in Los Angeles gestrichen werden sollen. Alleinerziehenden Müttern soll die Sozialhilfe um 20% gekürzt werden. Man muß sich das vorstellen: Die Hälfte der Schulen besteht aus rein spanisch sprechenden Klassen! Die geplanten Entlassungen werden gerade die Förderlehrer für Englisch und die Schulberater treffen, der ganze soziale Dienstbereich wird hauptsächlich von Schwarzen beansprucht, in ihm sind aber auch sehr viele Schwarze beschäftigt. Da kann man sich den Ketteneffekt bei solchen Einsparungen vorstellen.

Es war doch allerorten viel von Geld die Rede, das jetzt hierher fließen soll, von Bush, vom Kongreß...

Was die von Bush versprochenen 19 Millionen Dollar anbelangt, so will er sie für sein sogenanntes „Weed and Seed“-Programm (Jäten und Säen — Drogendealer weg, Jobs her) ausgeben. Wie das funktioniert, kann man in anderen großen Städten, etwa in Seattle, sehen: Das Geld wird für sogenannte „reverse buying“ ausgegeben: Verdeckt ermittelnde Beamten kaufen nicht Drogen, um etwa Dealer zu überführen, sondern verkaufen sie, um dann ihre Kunden durch Erpressung zu Informanten zu machen.

Aber hatten die Aufstände nicht doch die kathartische Wirkung eines reinigenden Gewitters? Ist das nicht der vielbeschworene Heilungsprozeß, steht Los Angeles nicht doch vor einem Neuanfang?

Das eigentlich Neue an der Situation danach ist der Umfang und das neue Niveau der Repression. L.A. soll ein Laboratorium für Aufstandsbekämpfung in den Städten werden, Versuchsgelände für das städtepolitische Programm der Republikaner. Von Anfang an verstand es die Bush- Regierung, die Niederschlagung des Aufstandes zu föderalisieren, will sagen, unter Bundeskontrolle zu bringen. Bush hat nicht nur die Nationalgarde unter Bundesbefehl und Bundestruppen nach L.A. geschickt, sondern auch das FBI, die Bundesdrogenbehörde und die Einwanderungsbehörde mobilisiert. Grenzpatrouillen wurden aus so entfernten Regionen wie Texas herangeschafft, und sie haben in den Straßen Jagd auf illegale Einwanderer gemacht.

7.000 Menschen wurden aufgegriffen und über die Grenze nach Mexico geschafft. Los Angeles hat jetzt seine „desparecidos“, seine Verschwundenen. Was Bush hier probt, ist die „Domestic Rapid Deployment Force“, eine nationale Eingreiftruppe.

Das klingt alles nach Untergangsszenario. Aber nochmals die Frage: entstand aus den Unruhen nicht vielleicht auch Positives?

Das gute ist der Friedensschluß zwischen den Banden. Der Bandenfrieden, der jetzt zwischen den 'Crips‘ und den 'Bloods‘ geschlossen wurde, wird dauerhaft sein. Irgendjemand wird mit diesen Leuten reden müssen, sonst entsteht in Amerikas Städten eine schwarze Intifada, und es gibt nicht nur alle 20 Jahre eine Explosion. Es wird auch nicht damit getan sein, eine immer größere Zahl dieser Leute in die Gefängnisse zu sperren, auch dort nimmt das Bündnis der Banden Gestalt an. Positiv an den Aufständen ist zudem, daß sie zwei bisher unartikulierten Minderheiten eine Stimme gegeben und sie politisierte: den Schwarzen und der Masse der hispanischen Einwanderer aus Mittelamerika. In gewisser Weise haben sich die Krisen Mittelamerikas nach Los Angeles verlagert.

Einer der Inglewood 'Bloods‘ hat es mir gegenüber so ausgedrückt: „Der alte Idiot Bush denkt, er könne die Marines hierher schicken und sich so seine Wiederwahl sichern. Aber das hier ist nicht der Irak, das ist Vietnam.“ Die Polizei fürchtet sich nun davor, daß sich die neu vereinigten 'Bloods‘ und 'Crips‘ gegen die Polizei zusammentun. Das haben die Banden bisher stets bestritten. Wovor die Polizei wirklich Angst hat, ist, daß sich wiederholt, was nach den Watts-Aufständen Mitte der Sechziger geschah: Damals ging aus einem Friedensschluß der Gangs die „Black Panther Partei“ hervor.

Was muß denn geschehen, damit Los Angeles so reformiert wird, daß nicht die alten Strukturen, die zum Aufstand führten, einfach neu entstehen?

Zunächst muß man sich nochmals die drei Gründe für die Revolte klar vor Augen führen. Das war zunächst eine demokratische Empörung gegen Unrecht. Ein Zornesausbruch über die vielen Mißhandlungen, Ungerechtigkeiten, die vielen Toten, die es durch Polizeiüberfälle gegeben hatte. Dann war es ein innerethnischer Konflikt zwischen Koreanern und Schwarzen, und letztlich war es eine Hungerrevolte, ein Aufstand der Habenichtse.

Die Aufstände von Los Angeles und möglicherweise nachfolgende Rebellionen müssen auch als Auflehnung gegen eine unerträgliche Wirtschaftsordnung verstanden werden. Die Globalisierung der Wirtschaft von Los Angeles hat Armut und Arbeitslosigkeit über die weniger gut ausgebildeten Angelenos gebracht. Hier bricht ein System zusammen. Das ist die erste Strukturkrise des Pacific Rim, des Pazifischen Beckens, der kalifornisch-japanischen Prosperität. Hier geht die Sonnenschein- Ära Südkaliforniens zu Ende. Wenn Marx heute leben würde, er schriebe seinen 18. Brumaire... über die Ereignisse in Los Angeles.

In den letzten drei Jahren hat Los Angeles 100.000 Arbeitsplätze in der verarbeitenden Industrie verloren. Die Luft- und Raumfahrtindustrie spielt nicht mehr die gleiche Rolle wie zu Zeiten des Kalten Krieges und ist dabei, neue Standorte zu suchen. Der größte Konzern und Arbeitgeber diesseits des Mississippi, McDonald-Douglas, wird wahrscheinlich im nächsten Jahr den Betrieb einstellen. Auch die Leicht- und Kleinindustrie, die wegen des Überangebots billiger Immigrantenarbeitskraft Standorte in Los Angeles hatte, verliert an Bedeutung. Das einzige, was hier noch profitabel ist, ist die Unterhaltungsindustrie.

Wer aber soll im großen Stil in Los Angeles investieren?

Wir haben es hier mit einer prä- keynesianischen Situation zu tun, in welcher der öffentliche Sektor Motor für den privaten sein muß. Wichtigste Investitionsbereiche wären Schulwesen und Kindergärten sowie der Wiederaufbau und Umbau der innerstädtischen Umwelt. Wir brauchen Kooperativen, zum Beispiel ein genossenschaftliches Wohnungswesen, genossenschaftliche soziale Dienstleistungen.

Aber der amerikanische Staat ist überschuldet, Kalifornien steht vor dem Bankrott, die Stadt ist pleite...

Nein, Amerika verfügt über die Ressourcen, sie werden nur nicht verwandt. Allein der Stadtteil Beverly Hills hat über 24 Millionen Dollar, die in einem Parkfonds liegen. Das sind Gelder, die für Falschparken eingenommen wurden. Eigentlich sollen damit Parkplätze gebaut werden. Jetzt will Beverly Hills dieses Geld für mehr Sicherheit ausgeben. Aber überall geht Sicherheit vor sozialer Reform. Man will sich abschotten, spricht davon, den „Fluß der Einwanderer“ zu stoppen, als wenn die an den Problemen schuld wären. Die Wirtschaft von Los Angeles hat die längste Zeit von dieser billigen Arbeitskraft gelebt. Jeder denkende Mensch weiß, daß man die Immigration nur durch eine vollständige Militarisierung der Grenze stoppen könnte. Das aber wäre das Ende jeglichen Rechtsstaates. Interview: Reed Stillwater

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