: Kontinuierliche Verfolgung
Eine Ausstellung im Tübinger Stadtmuseum zeigt Fotos und Dokumente zur Geschichte der Sinti in Schwaben ■ Von Ulrich Hägele
Die Dorfstraße auf der farbigen, etwas verblaßten Fotografie zieht sich in leichten Bögen zwischen Häusern und Weinreben den Hang hinauf. Ein klarer, sonniger Frühlingsmorgen im Jahr 1940. Einige Männer und Frauen stehen in ihren Hauseingängen oder schauen aus dem Fenster. Den ländlichen Kriegsalltag durchkreuzen Menschen, die, bewacht von uniformierten und bewaffneten Gestalten, offensichtlich unter Zwang die Straße herunterkommen. Es sind Sinti aus Württemberg, vielleicht 300 Männer, Frauen und Kinder. Mit ihren wenigen Habseligkeiten werden sie vom berüchtigten Festungsgefängnis Hohenasperg bei Ludwigsburg zum nahen Bahnhof getrieben — ihrer letzten Station vor der Deportation ins besetzte Polen. Unter den Schaulustigen ist niemand bereit, einzugreifen.
Fotos lügen bisweilen oder verzerren. Walter Benjamin charakterisierte das Fotografieren als einen unmoralischen Akt. Wenn wir die NS- Geschichte illustriert sehen, so ist es meist die schwarz-weiße Brille, die abstrahiert und dem abgebildeten Geschehen etwas Unwirkliches verleiht. Es liegt immer eine geheimnisvolle Ferne über den Bildern, die vor allem den Nachgeborenen das Abstandhalten vom Grauen erleichtert.
Aufgehoben erscheint die Zeit indes beim Betrachten der Farbfotos und Schwarzweiß-Porträts, der Gegenstände und Schriftstücke, die im Stadtmuseum Tübingen erstmalig in Form einer Ausstellung den Alltag, die Verfolgung und Vernichtung der Sinti in Schwaben dokumentieren.
Tübingen, die Universitätsstadt am Neckar, ist einer der Orte, an denen die reichsweite systematische Vernichtung der Sinti und Roma theoretisch vorbereitet wurde. 1932 begann eine Gruppe von WissenschaftlerInnen um den Psychiater Robert Ritter in der Tübinger Nervenklinik mit „rassenhygienischen Forschungen“. Sie stützte sich dabei auf „Zigeunerfahndungsbücher“, die Bayern seit 1905 amtlich erstellen ließ. Diese „Zigeunerzentrale“ erfaßte bis 1926 die persönlichen Daten, Fingerabdrücke und Fotos von 14.000 Sinti und Roma mit einer erschreckend bürokratischen Perfektion. Für sogenannte „Zigeuner“ bestand in Württemberg bereits seit 1914 die Pflicht, sich erkennungsdienstlich behandeln zu lassen. Das württembergische Polizeistrafrecht von 1920 faßte dann beispielsweise die ethnische Gruppe der Sinti unter „Zigeuner“, „Schmarotzer“, „archaische Sammler“ zusammen und stempelte sie in ihrer Gesamtheit zu Kriminellen ab.
Die rassistisch-biologische Argumentation der zwanziger Jahre griff die NS-Wissenschaft wieder auf. Die Anthropologen Eva Justin, Sophie Erhardt und Adolf Würtle untersuchten seit 1936 in Tübingen sämtliche „Zigeuner“, derer sie habhaft werden konnten. Die Vorgänge wurden teilweise auf Color-Dias gebannt, die damals erst kurze Zeit erhältlich waren. Die farbigen Abzüge, aufgenommen mal in muffigen Labors einer Nervenklinik, mal im Freien bei Sonnenschein, zeigen allesamt Akte der Entmenschlichung: Sinti werden registriert, vermessen, ihre Augen und Nasen abgelichtet. Von den vielen tausend der farbig festgehaltenen Augenpaare belegen in der Ausstellung einige Dutzend untereinandergereiht die Sammelwut der Nazis. Und nicht nur das. Besonders markante Köpfe sollten nach der geplanten Deportation als Anschauungsobjekte dienen. Hierzu überzogen die WissenschaftlerInnen die Köpfe der meist polizeilich vorgeführten „Zigeuner“ mit einer schnell erhärtenden Masse. War dieses Negativ fixiert, wurde daraus die cirka vier Millimeter dicke Positivmaske gegossen. Robert Ritter, 1938 als „Zigeunerexperte“ mit reichsweiter Kompetenz nach Berlin berufen, erklärte aufgrund der Begutachtungen seiner KollegInnen 90Prozent aller untersuchten Sinti und Roma zu „minderwertigen Mischlingen“. Die Anthropologin Eva Justin empfahl in ihrer Dissertation die Sterilisation von 92Prozent der „Zigeuner“.
Die unmittelbare Verfolgung der Sinti und Roma begann mit dem Erlaß Himmlers im Dezember 1938 „zur Bekämpfung der Zigeunerplage“, der Berufsverbot, Internierung und Ausgehverbot beinhaltete. Mitte Mai 1940 verließen die ersten Transporte mit 2.500 Sinti und Roma Württemberg und das Reich in Richtung Polen. Zuvor zwang man sie, ein Formular zu unterschreiben, wonach sie bei einer Rückkehr unfruchtbar gemacht werden würden. Nachdem die Nazis im April 1942 Sinti und Roma rechtlich den Juden gleichgestellt hatten, verfügte der sogenannte Auschwitzerlaß vom 16.Dezember 1942 die Einweisung sämtlicher Sinti und Roma in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Wieviele Sinti und Roma die Nazis insgesamt in den KZs ermordeten, ist nicht genau bekannt. Schätzungen schwanken zwischen 200.000 und 500.000.
Die Tübinger Ausstellung zeigt, wie die schwäbischen Sinti zunächst in ihren Heimatgemeinden verfolgt, dann deportiert und vernichtet wurden. So transportierten die Nazis im Mai 1943 36 von etwa 100 Sintis, die in einem Barackenlager in der Nähe von Ravensburg lebten, nach Auschwitz. Die übrigen sollten sterilisiert werden. Von den Deportierten waren am Ende noch sechs Frauen am Leben. Nur zwei von 23 Sintikindern der St. Josephspflege im hohenlohischen Mulfingen überlebten das KZ Auschwitz.
Die wissenschaftlichen Gehilfen des Holocausts der Sinti und Roma, die sich auf manchen Fotos neben den späteren Opfern verewigt hatten, zog nach 1945 niemand ernsthaft zur Rechenschaft. Sophie Erhardt ist in der Ausstellung beim Vermessen zu sehen. Sie wies nach dem Krieg ihre Verantwortung von sich und habilitierte 1949 mit einer Arbeit über die Vererbung von Handleistensystemen. Bis in die frühen achtziger Jahre konnte die Wissenschaftlerin unbehelligt an der Universität Tübingen ihre Forschungen anhand des während des Nationalsozialismus gesammelten Materials weiterbetreiben. Erst als auf Initiative einiger Sinti und Roma 1981 das Kellerarchiv an der Universität Tübingen besetzt worden war, ließ die Universitätsleitung Akten und Sammlung in das Bundesarchiv nach Koblenz überführen.
Die Kontinuität im Umgang mit den Sinti in Württemberg ist nicht verwunderlich, stützte sich doch auch die Rechtsprechung der „Wiedergutmachungsverfahren“ in der BRD bei Sinti und Roma bis 1965 noch auf die NS-Klassifikationen. Das perfide Vernichtungssystem des Nationalsozialismus führte Sinti und Roma jedoch nicht etwa als ethnische Gruppe, sondern notierte sie unter der Rubrik „Kriminelle und Spione“. Diese blieben bekanntlich von jeglicher „Wiedergutmachung“ ausgeschlossen.
Die Ausstellung Sinti in Schwaben. Alltag, Verfolgung und Vernichtung ist im Tübinger Stadtmuseum noch bis zum 19.Juli zu sehen.
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