piwik no script img

Fürs Kino sterben

Eine Erzählung  ■ Von Richard Marinick

Bei uns ging's rege zu. An allen Ecken der Stadt fand die Abrißbirne Beschäftigung. Mit bürokratischer Gleichgültigkeit suchte und fand sie zerfressene Mauern und Straßen voller Termiten und anderem Insektengewimmel und schlug zu mit der Kraft eines Düsenknalls. Sie zerstörte alles, was ihr im Wege stand, und ließ nur Wüste hinter sich.

Wo es leer geworden war, sprangen Tempel der Gier aus dem Boden, glitzernde Monumente aus Stahl und Beton, die in die Welt hinausschrien, sie würden ewig leben. Fast mußte man ihnen glauben.

Unser Haus war von Beacon Hill und den Regierungsgebäuden weit weg. Es stand im irischen Viertel, dem Viertel der weißen Arbeiterklasse. Wir waren der Stoff hinter den Sonntagsmorgengesichtern und sorgten dafür, daß diese Stadt funktionierte — obwohl natürlich keiner von uns darüber entschied, wie sie funktionierte. Ist schon verrückt, daß viele, die heute das Sagen haben, aus unserem Viertel kommen.

Meine Mutter schwankte dazwischen, eine gute Frau und Mutter zu sein und völlig außer Kontrolle zu geraten. Sie hatte, daran erinnerte mein Vater sie gern, zwei entscheidende Probleme. Das eine war ihre überwältigende Neigung zu starken Getränken aller Art. Und das andere war ich.

Meine Mutter war, was man damals eine Anhängerin der alten Schule nannte. Sie strafte lieber mit dem Gürtel als mit Worten, wohl weil der Ledergürtel ihrer Ansicht nach substantieller war als Luft und das erwünschte Resultat schneller erzielte, wenn auch nicht unbedingt dauerhafter.

Mein Vater war Rohrverleger und arbeitete in Doppelschichten für die Gasanstalt. Er ließ sich in unserem kleinen Haus am Ende der Sackgasse selten blicken. Wenn er doch einmal da war, dann als griesgrämiger, unnahbarer Zombie. Auf seinem Gesicht und in der Bierdose in seiner Hand, Marke Blue-Ribbon, spiegelte sich meist das weiße Flackern der Glotze. Dann sah er sich die Celtics oder Briuns oder sonstwelche Sportler an, die ihn entführten aus dem beuligen abgerissenen Sessel und erlösten vom Anblick der getigerten Katze, deren zerkratzte und narbenübersäte Beine noch dünner waren als seine eigenen.

Wenn ich ihn außerhalb der Arbeit treffen wollte, war das trotzdem nicht weiter schwierig. Ihm gehörte sozusagen ein Hocker in der Teamster-Kneipe, den er reichlich und in täglichen Raten abbezahlte. Jeden Tag saß er da, auf dem sechsten Hocker vom Fenster aus gerechnet, vor dem verblaßten Autogrammfoto von Jack Sharkey, dem Boxer. Mein Vater meinte, daß ihn mit Jack einiges verband. Beide hatten eine gebrochene, nach links verbogene Nase und Narben über beiden Augen. Die Gemeinsamkeiten hörten da aber auch schon auf. Während Jacks Verletzungen von seinen Kämpfen im Boxring herrührten, verdankte mein Vater sie einer Straßenbauabdeckung, die ein unvorsichtiger Kumpel ihm an einem regnerischen Herbstabend aufs Gesicht hatte fallen lassen.

Normalerweise störte ich ihn nicht, wenn er in der Kneipe saß. Er schätzte solche Unterbrechungen nicht. Er hatte „zu tun“, mußte wichtige Pläne diskutieren, und ich wollte schließlich nicht dem Aufstieg unserer Familie im Wege stehen. Er wußte, daß es seine Pflicht war, uns zu ernähren und zu kleiden, und er erfüllte sie mit nahezu religiösem Eifer. Es ging uns beinahe gut.

Darüber hinaus aber wollte mein Vater sich lieber mit seinen Kumpels in der Kneipe unterhalten, als zu Hause seinen Kindern beim Großwerden zuzusehen.

*

„Davey, gehen wir denn nun heute ins Kino?“ fragte Mikey Flaherty und trat den schlappen Ball müde über den Rasen in meine Richtung. Mikeys Familie war vor zwei Jahren aus dem kleinen Dorf Clarn in County Cork hierhergezogen, und er hatte immer noch nicht recht begriffen, wie man mit dem schweinsledernen Football umging; er war immer noch mehr gewöhnt an das Schießen und Rennen, das zur europäischen Fußballvariante gehört.

Das Feld, auf dem wir spielten, war der größere Teil des Marineparks im Süden von Boston. Auf der anderen Straßenseite bohrten sich die zwei roten Backsteinschornsteine des Edisonkraftwerkes in den Himmel, als ob sie die Unterseite der niedrighängenden Wolken kitzeln wollten. Baumwollförmige Kissenschwaden von tödlich weißem Rauch quellen aus den Spitzen dieser hohlen, zwanzig Stockwerke hohen Türme. Damals war ich fest davon überzeugt, daß sie irgend etwas Geheimnisvolles mit ihrem Brennstoff anstellten, damit der Rauch so sauber und beinahe freundlich aussah. Weißer Rauch macht die Leute weniger mißtrauisch und wütend als schwarzer.

Wir hatten vor, an diesem Tag in die Stadt zu gehen und uns den neuesten Film, „Spartakus“, im Publix Kino anzugucken. Ausflug und Kino waren seit drei Wochen fest verabredet.

„Ich habe mein Geld immer noch nicht, Davey“, sagte Mikey. Ich sah wütend zu ihm rüber, aber er wich meinem Blick aus und guckte starr nach unten, als ob er die Atome in dem kleinen Stein zählen wollte, den er mit seinem blau-beturnschuhten Fuß sanft vor sich herschob.

Mikey war groß für ein Kind von zehn Jahren und sehr dünn. Seine Haut war schrecklich blaß und durchsichtig. Ich war zu dem Schluß gekommen, daß das an den vielen Kartoffeln lag, die er essen mußte.

Über ihm lag die Traurigkeit und scheue Distanz eines Jungen, der nie hatte aufblühen dürfen. Er war wie eine Blume, deren Blütenblätter zusammengebunden waren, eine Tulpenzwiebel, auf die man getreten hatte und deren strahlende Blütenfarben nur so eben noch durch die aufgeplatzten Nähte schimmerten.

Ich war einer der wenigen, die Mikeys wirkliche Farben kannte, denen gegenüber er seine Reserve aufgab, und wagte, Gefühle zu zeigen. Es sah so aus, als ob ich, mit meinem Vorsprung von einem Jahr und auch eher klein für mein Alter, den Platz seines älteren Bruders eingenommen hatte, der vor elf Monaten bei einem Badeunfall ums Leben gekommen war.

Auch seine Mutter war, wie meine, eine wüste Alkoholikerin, und das zementierte unsere Freundschaft. Wir waren Brüder im Leiden.

An jenem Tag gingen wir zu ihm nach Hause. Bei ihnen sah es in dem Maß aus wie bei uns, daß ich mich dort fast wie zu Hause fühlte. Es war immer dasselbe. Bier- und Whiskeyflaschen lagen herum wie Staubbällchen in einem Zimmer, die auf den vorsichtigen Tritt der Spinne warten. Mikey erklärte, wie immer, daß das Durcheinander Ergebnis einer Party sei, die seine Eltern vergangene Nacht zusammen mit den Nachbarn gefeiert hätten. Seine Mutter hätte nur noch keine Zeit gehabt, alles wieder aufzuräumen.

Allerdings war es erst Mittwoch, und die einzigen, die an einem Dienstagabend derart wüste Partys feierten, waren Säuferinnen und Säufer wie meine und seine Mutter, und die Nachbarn brauchten sie dafür auch nicht.

Mikey ging eilig hin und her und sammelte die Flaschen auf, und zwar so, daß sie nicht aneinanderstießen, als ob er die verdrossene Stille des Ortes nicht stören dürfte. Er tat, als ob alles in Ordnung wäre. Aber ich wußte, daß das nicht stimmte.

Während der nahezu lautlose Klang der in den Eimer fallenden leeren Bierdosen sich mischte mit dem Klirren der Flaschen und zerbrochenen Gläsern, rief er leise nach seiner Mutter. Ich kannte das Theater schon und folgte ihm auf Indianerfüßen, ab und zu hilfreich zupackend.

Wir brauchten Geld für unseren Ausflug in die Stadt, den wir seit drei Wochen vorhatten. Ich hatte mir meines besorgt. Ich war schlau genug gewesen, meine Mutter vor zwei Wochen schon darum anzuhauen, bevor sie einen ihrer Saufanfälle kriegte. Ich hatte es bekommen, als sie noch hübsche Lieder sang über den Frühling in den Bergen, über Paraden in Dublin und die Lichter in New York. Und bevor ihre Augen den Glanz und das Strahlen verloren, das ich so sehr liebte und so selten sah.

Sie gab es mir mit Freuden, 2 Dollar 25 Cent, fürs Kino und die Fahrt hin und zurück. In der Vergangenheit waren wir nicht selten von Summer Street aus per Anhalter gefahren, in der Hoffnung, daß unsere Nachbarn uns nicht sahen und bei den Eltern verpätzten. Wir sparten durchs Trampen 60 Cent pro Kopf, die wir dann für bessere Sachen ausgeben konnten, etwa für Bonbon, Soda und Popcorn. Mikey hatte sein Geld also noch immer nicht, und ich fürchtete, daß er es auch nicht mehr kriegen würde. Meine Angst bestätigte sich prompt, als seine Mutter plötzlich in der Tür zu ihrem spärlich möblierten Wohnzimmer auftauchte. Die Küche und die winzige Speisekammer hatten wir inzwischen vom Müll befreit.

Seine Mutter trug ein schmutziges rosa Nachthemd. Sie war groß und sah schrecklich aus — nach vorn gebeugt, als ob an ihren eingefallenen Wangen bleierne Gewichte hingen, die sie herunter und nach vorne zogen und denen sie keinen Widerstand mehr entgegensetzen konnte oder wollte.

Aber ich merkte auch, daß es um mehr ging als nur diesen physischen Horror. Um sie herum lag etwas in der Luft, vor dem mir graute. Es war der Geruch des Todes. Sie selbst wußte es auch, aber es kümmerte sie nicht mehr.

„Ma, du hast mir'n Dollar oder zwei fürs Kino versprochen...“, sagte Mikey und hob dabei die Augen kaum vom schmutzstarrenden Boden, derweil ich mich wie ein verlorenes Hündchen in die Ecke drückte und versuchte, in der fleckigen Blumentapete zu verschwinden. Dabei wußte ich natürlich, daß sie mich schon längst gesehen hatte. Mit kaltem Blick waren ihre dunklen Augen über meinen Körper gefahren. „Ach, wofür brauchst du denn wohl Kohle?“ fragte sie, und ihre Augen glänzten fiebrig von der blauen Flamme des Alkohols.

„Hau bloß ab, du blödes Gör'! Und nimm deinen Scheißfreund Davey gefälligst mit, bevor ich euch welche überzieh'! Los, macht, daß ihr weiterkommt!“ Sie machte einen Schritt auf uns zu, eine Bewegung wie ein altes, zitterndes Friedhofsmonster.

Wir rannten die Hintertreppe runter und weiter durch den Müll in den Gassen und Hinterhöfen des Lower End, bis wir schließlich sieben Blöcke weiter auf der Summer Street waren.

Mikey hatte während unserer Flucht kein einziges Wort gesagt. Ich erinnere mich, daß ich ihn schließlich mit einem gemurmelten „Keine Sorge, Mann“ aufzumuntern versuchte. Er reagierte nicht und ging nur niedergeschlagen mit gesenktem Kopf und gelegentlichem Schniefen hinter mir her, während ich schon versuchte, uns ein Auto anzuhalten.

Schließlich hielt auch eines an, und bald waren wir auf unserem Weg durch die gewundenen Hauptstraßen Richtung Innenstadt. Auf der Fahrt quasselte ich über das, was uns erwartete. Mikey lächelte nur schwach und starrte aus dem dreckigen Wagenfenster. Als das Auto geräuschvoll über die Schienen der Boston- Maine-Eisenbahnlinie rumpelte, die über die Straßen führte, drehte er sich zu mir. „Davey, wie soll'n wir denn bloß beide ins Kino kommen?“ fragte er. „Kannste mir das mal verraten, Mann?“ In seiner Stimme schwang schon die Niederlage dieses Tages. Ich zwinkerte großkotzig. „Keine Angst, alter Junge“, sagte ich mit meinem schönsten britischen Akzent und legte mein dünnes Ärmchen großartig um seine Schulter. „Ich versprech' dir, daß wir da nicht nur ohne Schwierigkeiten reinkommen, sondern auch noch reichlich Zaster überhaben. Damit können wir dann bis zum Anschlag, Soda, Popcorn und Bonbons fressen. Da mußt du aufpassen, daß du deine gute alte Jacke nicht noch vollkotzt“, sagte ich und zog dabei spielerisch an einem Jackenknopf auf seiner Brust. „Überlaß das man mir.“

Als wir nur einen Block entfernt schließlich von dem netten alten Herrn rausgelassen wurden, der uns freundlich Vorhaltungen machte, daß wir in unserem zarten Alter schon in der Stadt rumtrampten, schien sich seine Stimmung zu heben. Wir dankten dem netten Alten mit übertriebenem Ernst und versuchten krampfhaft, uns das Lachen zu verkneifen.

Kurz danach standen wir schon am Publix und grinsten immer breiter und seliger, auch als wir an der Warteschlange, die den ganzen Block entlang stand, vorbei und um die Ecke in die Essexstraße bogen.

„Kein Problem für uns, Alter!“, sagte ich und faßte Mikey am Ellbogen, zog ihn vorbei an dem überquellenden Müllcontainer, der die Gasse an der Seite des Publix-Gebäudes blockierte.

„Die Schlange ist nur für Verlierer!“

Wir gingen den engen Schlauch entlang und unsere Füße klebten beinahe am Asphalt fest, der hier mit einer zentimeterdicken, klebrigen Schicht bedeckt war, wahrscheinlich irgendein geschmolzener Apfelbonbonkleister. Der stammte wohl aus den Müllcontainern, die hier die ganze Länge der Gasse entlang standen wie die Güterwagen eines langen Zuges.

Wir kamen am Fuß einer uralten Feuertreppe an, die an der einen Seite des Gebäudes hing, in dem auch das Publix war. Über uns stiegen Quadrate, Ecken und Treppenstufen in kohlschwarzem Gußeisen acht Stockwerke hoch und endeten an einer Dachkante des Kinogebäudes.

Ich machte mit meinen gefalteten Händen einen Tritt für Mikey, damit er die Leiter erreichte. Er packte sie und sah nervös runter, während ich ihm ermutigend zunickte. Schließlich griff er die unterste Sprosse und die uralten Angeln quietschten mächtig, als er das Ding zu uns rüber zog.

Wir fingen an zu klettern und fanden uns bald hoch über dem Ameisentreiben der Stadt. Dann standen wir auf der höchsten Plattform und blickten durch die rostigen Eisenstangen auf die schmutzige Gasse acht Stockwerke unter uns. Ich guckte Mikey an, und da sah ich die ersten Anzeichen wirklicher Angst in den Augen meines Freundes. Ich hielt mich an dem rostigen Geländer fest und zeigte auf ein Fenster, das einen knappen Meter entfernt in die Mauer eingelassen war. Es war geschützt durch ein dichtes Geflecht aus dickem Draht. Aber am oberen Ende war der Draht an dem verzogenen, ungestrichenen Holz des Fensterrahmens lose.

Ich sagte Mikey, er solle sich neben mich stellen. Dann legte ich meine Linke auf seine linke Schulter und drückte mich so auf das Geländer hoch. Fürs Gleichgewicht krallte ich mich mit der Rechten in den kaum einen halben Zentimeter breiten Rand der Ziegel. „Halt' meine Beine fest“, wies ich Mikey an, und der packte mit einer so heftigen Umarmung meine Knie, daß ich beinahe über den Rand geflogen wäre. „Nicht so doll, du Idiot!“ keuchte ich, kaum in der Lage, für die drei Worte genug Luft zu holen.

Er lockerte seinen Griff und ich beugte mich nach vorne, mit der rechten Hand auf die Wand gestützt. Mit der Linken zog ich das Drahtgitter von der oberen Hälfte des Fensters ab. Dann griff ich nach innen und zog den oberen Teil des Schiebefensters nach unten. Zuerst wollte er sich nicht rühren, dann aber sauste es mit einem Knall runter, so daß zwei seiner uralten Glasscheiben zerbrachen.

„Laß los!“ befahl ich, und Mikey ließ meine Beine los.

Wie ein Affe im Regenwald sprang ich durch die Luft und krallte mich mit beiden Händen an den oberen Rand des morschen Holzes. Ich hörte deutlich das Knistern von sprödem Holz und das gequälte Seufzen des sich aus dem Rahmen lösenden Fensters.

Ich tanzte in der Luft und fühlte mich wie ein zum Hängen Verurteilter, wenn er durch die Klappe im Boden fällt. Mit einer wahnsinnigen Anstrengung, mein Adrenalinausstoß jenseits aller Rekorde, zog ich mich hoch und schlüpfte durch die Öffnung zwischen Schiebefenster und oberem Rahmen.

Ich landete auf Kartons, die nahe am Fenster gestapelt waren, und sah mich um. Ich mußte grinsen, als ich die gewohnte Muffigkeit der Zimmerluft roch. Ich war nicht zum ersten Mal hier oben.

Dieser Verschlag war ein wenig benutztes Lager direkt über der Vorführkoje. Eine Leiter führte von der Tür, die sich gleich links befand, direkt zu den Balkons im Kino und damit zu den meiner Meinung nach besten Plätzen des Hauses.

Ich drehte mich wieder um, ging gebückt zum Fenster und steckte meinen Kopf raus. Mikey stand bewegungslos auf der Plattform und war weiß wie eine Möwe — und wohl ebenso bereit, auf der Stelle davonzufliegen. „Na los“, flüsterte ich ihm zu, „komm schon“ und winkte ihn zu mir rüber.

Eine Sekunde lang zögerte er, dann kletterte er ohne ein Wort zu sagen auf das Gelände und wartete auf weitere Instruktionen.

„Stütz dich an der Schweißwand ab!“ Ich wurde ungedulig. Er nickte leicht und öffnete schon den Mund zur Antwort. Dann sah er nach unten.

Angeblich gibt es ja viele Abstufungen von Weiß. Mikey aber war in einer Klasse ganz für sich. Ich hätte nicht gedacht, daß überhaupt noch Blut in seinen Adern war, bis er runtersah und die wenigen doch wohl vorhandenen Blutstropfen aus seinem Gesicht wichen. Er sah aus, als ob er gleich in Ohnmacht fallen würde. Ich versuchte, mich zu beruhigen und meinen Ärger nicht zu zeigen. „Nu los, Mikey, komm schon! Spring. Und pack das Fenster, so wie ich's gemacht hab'“, sagte ich und lehnte mich dabei aus dem Fenster ihm entgegen, so weit es irgend ging. „Ich halt' dich schon, keine Angst.“

Was dann passierte, erfüllte mich weniger mit Schrecken als mit Traurigkeit. Schreck ist etwas Schnelles, Spontanes. Trauer stellt sich langsam her und wächst. Und ich hatte volle fünf Sekunden Zeit — genug, um in einen Zustand tiefsten Unglücks zu verfallen.

Mikey sprang. Aber anstatt in die Wand zu greifen, wie ich ihm gesagt hatte, stieß er sich von ihr ab. Er griff nach der Fensterbank, seine Knie und Zehen knallten gegen die Mauer. Bis heute möchte ich schwören, daß er die Augen schloß, als er sprang.

Ich griff nach ihm, aber er stieß gegen meinen Arm und schlug ihn, die Handfläche nach innen, gegen die Wand. Er krallte sich in meinen Arm oberhalb des Handgelenks, während meine Hände nichts anderes griffen als flachen, roten Stein. Mit seiner freien Hand grub er sich in die Steinkanten und versuchte, sich an ihnen nach oben zu krallen. Als ich mich noch weiter herauslehnte und versuchte, seinen freien Arm zu greifen, hörte ich deutlich das Geräusch meiner umbiegenden Fingernägel.

Beinahe hätte er mich aus dem Fenster gezogen. Wir kämpften wortlos, der einzige Laut war das Taptap seiner beturnschuhten Füße, die gegen die Hauswand traten. Ungeschickt, aber mit aller Kraft zog ich, obwohl es mir vorkam, als ob mein Arm aus dem Gelenk gerissen würde.

Mikey sah mir in die Augen, seufzte einmal kurz und ließ mein Handgelenk los. Wie in Zeitlupe schien er zu fallen, als läge er bequem und still auf einem Bett aus Luft. Er fiel volle fünf Sekunden lang, auf die Gasse unter uns zu. Dann schlug er auf mit einem Knall, der klang wie die Peitsche eines Cowboys beim Rodeo auf dem Rücken eines Stiers.

Ich starrte auf die zerknitterte Lumpenpuppengestalt da unten wie in Trance, dann rannte ich zur Tür. Ich kletterte die Leiter zu den Balkons hinunter, raste durch den Zuschauerraum und schubste verstörte Kinder und wütende Erwachsene aus dem Weg. Und weiter rannte ich, zu den Eingangstüren, sprang über das rote Seil am Eingang und den Weg entlang und um die Ecke, rein in die Gasse. Ich flog den engen Gang entlang, bis ich meinen Freund erreichte. Er lag in der gleichen Haltung da, in der er gelandet war.

Sein Hinterkopf war geborsten wie ein Motorblock und die Hirnmasse mischte sich leicht mit dem Apfelbonbonkleister auf dem Asphalt. Ein Auge war aus der Fassung gesprungen und hing in seinem Gesicht, festgehalten von einer rötlichen Schnur, die im Inneren seines Schädels verschwand.

Ich stand sehr still und atmete kaum, obwohl meine Lungen nach Luft schrien. Ich wagte nicht, ihn anzufassen. Dies war meine erste Begegnung mit dem Tod. Meine Augenmuskeln schienen gefroren. Ich pißte mir in die Hosen.

Benommen ging ich die Gasse zurück, Feuchtigkeit sickerte an mir herab und in die Socken. Ich ging zum Kartenverkaufsschalter. Immer noch standen Leute herum, lachten, scherzten und warteten auf Einlaß, vollkommen ahnungslos, ohne Bewußtsein von dem schrecklichen Gast in der Gasse nebenan.

Ich klopfte an das Glas des Kartenschalters. Ich reichte ja kaum bis nach oben, und mit aller Kraft flüsterte ich der wasserstoffblonden Dame zu: „In der Gasse liegt einer verletzt.“ Leer und auf Zombiefüßen drehte ich mich um und ging über die Straße Richtung Boston Common- Park. Von den bremsenden Autos und aufgrölenden Hupen um mich herum merkte ich nichts. Ich ging zum Froschteich und setzte mich auf die Betoneinfassung. Stundenlang starrte ich in seine kahle Leere.

Um elf Uhr kam ich in dieser Nacht nach Hause. Das Haus war aus der Ferne tröstlich dunkel. Ich benutzte den Hintereingang und fand meine Mutter an ihrem üblichen Platz, mit dem Gesicht auf der Küchentischplatte. Sie schnarchte nicht. Ich nahm ihr das leere Glas aus der Hand und horchte, ob sie noch atmete. In der Dunkelheit stieg ich die Treppe zu meinem Zimmer hoch. Ohne mich auszuziehen, legte ich mich ins Bett. Ich hatte nicht einmal mehr die Kraft, mir die dreckigen Schuhe auszuziehen.

Ich lag in der Dunkelheit und sah an der Zimmerdecke über mir phantastische Formen erscheinen und sich wieder auflösen. Das erste Mal an diesem Tage weinte ich.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen