: Pablo liebkoste den Hörer und weinte bitter
Der US-Amerikaner Pablo Morales gewinnt zärtlichen Auges die 100-Meter-Schmetterling: Ein olympischer Kitschroman ■ Aus Barcelona Michaela Schießl
Als er nach 100 Metern anschlug, war die Angst am größten. Er hob die Ohren aus dem Wasser und lauschte. Doch alles, was er hörte, war Stille. [schwachnervige LeserInnen mögen jetzt ein Kleenex bereitlegen; d.R.] „Ein Alptraum“, dachte Pablo Morales, „es ist wie damals.“ Er schloß die Augen, und wieder zog in seinem Inneren das Trauma seiner Jugend an ihm vorbei.
1984 war es, als er, der große Favorit über 100-Meter-Delphin, bei den Olympischen Heimspielen in Los Angeles mit der Hand den Beckenrand berührte — und geschlagen war. Von einem nahezu unbekannten Deutschen namens Michael Groß, den alle nur den „Albatros“ nannten. Niemals kam er über dieses Grauen hinweg, nicht einmal, als er 1986 in 52,84 Sekunden den Weltrekord schwamm, den bis heute niemand, auch kein Albatros, unterbieten konnte.
Langsam verschwamm die Erinnerung. Wie in Zeitlupe wandte Pablo sich um und sah auf die Anzeigentafel. Und plötzlich brach der Applaus los im Stadion „Piscines Bernat Picornell“ in Barcelona. Da endlich begriff er: Ich habe gewonnen, der Alptraum ist vorbei, der Albatros auf der Seele bewältigt, ich habe es geschafft, Gold, Gold, Gold.
Dabei hatte Pablo Morales, der Sohn kubanischer Emigranten, schon einmal aufgegeben. 1988, als er die Qualifikation zu den Olympischen Spielen in Seoul verpaßte. Eine Welt brach für ihn zusammen. Wochenlang warf er sich, von Gram geplagt, schlaflos im Bett hin und her. Kurz darauf schlug das Schicksal erneut zu: Seine über alles geliebte Mutter starb. Ohnmächtig mußte der 23jährige zusehen, wie der Krebs sie qualvoll auffraß. So sehr nagte dieser Schicksalsschlag an ihm, daß er dem Schwimmen abschwor.
Justitia sollte ihm fortan die Mutter ersetzen. Die Gerechtigkeit wurde zu seiner Sache: Er begann, in Stanford, California, Jura zu studieren. Erst drei Jahre später, 1991, meldete sich sein verhärtetes Herz zurück. „Geh ins Wasser, Pablo“, sprach es zu ihm. Pablo erschrak, doch dann fuhr sein Herz fort: „Zeig es ihnen allen, schwimm schnell wie der Delphin, Pablo, schwimm!“ Und Pablo hörte auf die Stimme seines Herzens.
Ergeben stieg er ins Wasser, bereit, das mühsame Leben eines Kachelzählers wieder aufzunehmen. Von diesem Moment an beherrschte nur noch ein Gedanke seinen athletischen Körper: Sich den Lebenstraum zu erfüllen, Gold bei den Olympischen Spielen in Barcelona. „Man kann nicht jeden Traum verwirklichen“, sagt Pablo mit den zärtlichen Augen. „Was zählt, ist, daß man es versucht.“ Einmal noch wollte er alles. „Ich muß sehen, was ein 27jähriger nach drei Jahren Pause noch kann.“ Er sah, und was er sah, gefiel ihm. Sein Comeback bei den US- Olympiaausscheidungen 1992 wurde zum Triumphzug: Als Sieger stieg er aus dem Pool wie Phönix aus der Asche. Von da an wußte er: In Barcelona geht es einzig um Gold.
Nur mühsam konnte er seine Rührung verbergen, als ihm die Medaille umgehängt wurde und seine Nationalhymne erklang. The star spangled banner — der Kloß im Hals wurde immer dicker. Dreimal mußte er heftig schlucken, um seine Ergriffenheit niederzuringen. Verschämt strich er sich mit dem Trockenblumenstrauß durchs Gesicht, dessen Züge zu entgleisen drohten. Einer wie er muß wohl von Natur aus dicht am Wasser gebaut haben.
Kaum fiel der Vorhang, eilte er zum nächsten Akt ans Telefon. „Papi“, schrie er, „Papi, Papi, es ist vollbracht. Ist das alles schrecklich. Papi, Papi, ich liebe dich so. Ich komme bald nach Hause.“ Ein herzzerreißendes Schluchzen schüttelte seinen muskulösen Körper. Ganz dicht ringelte sich der Olympiasieger um den Hörer, liebkoste ihn und begann, bitterlich zu weinen. So laut, daß die Reporter, die leicht beschämt die Szene verfolgten, es mit Sicherheit hören konnten, und alles aufschrieben.
Pablos Vater indes sprang auf, um zu seinem Sohn zu eilen. Denn Paps Morales war in Wahrheit nur 200 Meter entfernt, als Gast beim US- Fernsehsender NBC. Er durfte die Kitschkomödie vom Logenplatz aus genießen. Wir jedoch können sicher sein, auch wenn es noch nicht publik ist: der Sieg, das Gold, die Tränen, sie sind bestimmt für die tote Mama.
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