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Explicit Lyrics

Der Musikjournalismus arbeitet an der Wiederentdeckung des Sozialen. Über Wimps, Pimps, Kapitalismus als Menschenrecht und das erste auf deutsch erschienene Grundlagenwerk zu HipHop  ■ Von Thomas Groß

Zu den ungeschriebenen Gesetzen des besseren U-Musikjournalismus gehörte bislang die Verpflichtung auf ein Sprechen, das andere ausschloß. Es zielte weniger auf argumentative Klarheit als auf das geheime Einverständnis beim gleichgesinnten Hörer; es verfügte über eingebaute sprachliche Erkennungsmarken, die regelmäßig ausgewechselt wurden, um Exklusivität zu wahren; es verhüllte beständig seine eigenen Voraussetzungen und Überzeugungen, indem es sich aussprach, kurz: Es war ein verschwörerisches Sprechen und Denken, das im Verhandeln bizarrer Pop-Phänomene einen Grabenkrieg mit einer (zu Recht) als nivellierend empfundenen Öffentlichkeit austrug. Nichts lag ihm so fern wie die Idee des Lexikons, des Handbuchs. Denn war ein Phänomen, egal ob Punk, „New Wave“ oder was unmittelbar danach kam, erstmal säuberlich in seine verschiedenen Facetten zerlegt, war der Code auch geknackt — und all die schönen Ideen von Subversion und Dissidenz waren damit plötzlich Allgemeingut, gängige Meinungsmünze, Feuilleton-Liberalismus. Game over, start again.

Popstrategen sind ratlos

HipHop hat diesem Spiel, das die späten Siebziger und die gesamten Achtziger bestimmte, nicht nur neues Material geliefert, er hat die Spielregeln selbst durcheinandergebracht. Anders als im vergangenen Jahrzehnt herrscht bei den Strategen im Popkampf heute keine Einigkeit mehr über die Wege der Dissidenz, auch keine relative. Die Nonchalance ist dahin, der Exklusivitäts- und Führungsanspruch auch. Denn HipHop oder Rap (hier getrost synonym zu gebrauchen) ist zunächst einmal ein schwarzer Musikstil, nicht unmittelbar für die Bedürfnisse einer weißen Spaßguerilla produziert. Was nicht heißt, daß er nicht deren Bedürfnissen entgegenkäme. HipHop ist Tanzmusik, und natürlich läßt sich in ihn hineinhören, was dem eigenen Hintergrund entspricht — im allgemeinsten Fall „Let's Talk About Sex“. Für den Autonomen mit Punk-Vergangenheit steht Public Enemys „Fight The Power“ in einer Tradition mit „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, Intellektuelle fühlen sich eher an Foucault erinnert. Wenn es ein Gemeinsames darin gibt, dann allenfalls dies: die zugleich ängstliche wie lustvolle Ahnung, daß HipHop die Paradigmen der Als-ob-Welt des vergangenen Jahrzehnts sprengen könnte, daß es hier um mehr geht als um diskursive Verwirrspiele und Pop-Ästhetizismus. Zwar leben wir alle „irgendwie“ in einem gelben Unterseeboot, aber vielleicht steht auch hierzulande das Auftauchen bevor; und vielleicht war der Brand von South Central der Vorgeschmack davon.

Kings, Queens und Stammesfürsten

Wo das Verständnis der täglichen Entwicklung derart hinterherhinkt, erhält sogar das veraltete, seiner Wirkungsweise nach kontemplative Medium Buch noch einmal eine Chance. Gleich zwei Veröffentlichungen zum Thema HipHop/Black Music gibt es in diesem Jahr. Im Herbst erscheint bei Hannibal David Toops Standardwerk „Rap Attack“ (1984 geschrieben und 1991 um vier Kapitel erweitert) erstmals in deutscher Übersetzung — „fachmännisch vorgenommen und mit einem Vorwort versehen von dem deutschsprachigen Rap-Spezialisten Diedrich Diederichsen“, wie der Verlag stolz vermeldet. Bereits erschienen ist „Yo! Rap Revolution“ von dem französischen Journalisten David Dufresne. Um es gleich zu sagen: kein „gutes“ Buch. Weder ist es brillant geschrieben noch hat es Witz. Sätze wie „Der Rap erhält eine ganz neue musikalische Dimension durch die Prädominanz des Rhythmus, den modernen Klang und die neue Struktur der Kompositionen.“ klingen erbärmlich (was nicht nur an der Übersetzung liegen kann). In zahlreichen Kapiteln und Unterkapiteln wird Gruppe für Gruppe der Rap lexikalisch abgehandelt. Dufresnes Anstrengung wäre nichts weiter als entsetzliche Faktenhuberei, käme sie nicht aus dem offenkundigen Bedürfnis, sich am Material des Phänomens zu versichern.

So gelesen ist „Yo! Rap Revolution“ zunächst einmal ein brauchbares Handbuch, das die Entwicklung des HipHop von den Anfängen bei Grandmaster Flash, der Sugarhill Gang und Kurtis Blow bis hin zu Queen Latifah, De La Soul, IceT, Ice Cube und den Jungle Brothers nachzeichnet. Es behandelt Afrocentricity, schwarzen Nationalismus und schwarzes Marketing. Es wirft Schlaglichter auf die unablässigen Verästelungen des HipHop-Movements in Genres und Subgenres mit Kings, Queens und lokalen Stammesfürsten, mit Codes, die sich vermischen, durchkreuzen und oft auch gegenseitig ausschließen. Welten liegen zwischen New York und Florida, zwischen den musikalischen Edutainment- und Selbstaufklärungs-Kampagnen von KRS One und dem Tits And Ass-Machismo der 2Live Crew, während England mit Monie Love, der London Posse und anderen eine ganz eigene Szene hervorgebracht hat. Zwischen die Kapitel eingestreut sind Exkurse zur Geschichte der schwarzen Bewegung und ihrer Führer. Wer noch nie von MalcolmX oder Eldridge Cleaver gehört hat, wird mit Grundinformationen versorgt. Auch das statistische Material ist ebenso basic wie schlagend: 1986 befanden sich 99Prozent der US-amerikanischen Fernsehstationen und 98,5Prozent der Radiosender in weißer Hand. Eine einzige der 1.700 Tageszeitungen gehört einem Schwarzen.

Der „wahre“ HipHop

Und doch ist „Yo! Rap Revolution“ mehr als bloße Ethnographie des Auslands. In einem „Up Date“ von immerhin fast 50 Seiten versucht sich der Hamburger Musikjournalist und DJ Günther Jacob an einer politischen Interpretation der HipHop-Bewegung, die sich zugleich kritisch mit den verschiedenen Formen der Aneignung durch Nicht-Schwarze auseinandersetzt. Zwei Dinge setzt Jacob an den Anfang seiner Suche nach dem „wahren“ HipHop: „Was HipHop IST, erfährt nur, wer sich, angetrieben vom Spaß am guten Groove, mit dieser Musik, ihren Texten und dem kulturellen Umfeld ernsthaft auseinandersetzt, was wiederum nur kann, wer ,erklären können‘ nicht mit ,verstehen können‘ verwechselt, wer also auch die KRITIK wagt.“ Mit anderen Worten: HipHop ist nicht Pop. Trotz seiner kommerziellen Seite erzwingt er die Abkehr vom Easy Listening.

Außerdem: „Während sich jede andere Musikrichtung lediglich auf die hochgradig instabilen Wertemilieus individualisierter Metropolenszenen stützen kann, ist Rap nicht nur hip, sondern auch sozial geerdet.“ Mit anderen Worten: HipHop/Rap ist nicht „Postmoderne“. Im Gegensatz zum Denken der achtziger Jahre, das auf verschiedenen Ebenen den Verlust der Wirklichkeit umkreiste (oft mit derart hoher Umdrehungszahl, daß die Trauer über die Leere schon wieder in Fröhlichkeit umschlug), geht es in der neuen schwarzen Musik um „richtige“ Menschen mit echten Problemen.Ein nicht zu unterschätzender Einschnitt in der Art, über populäre Musik zu reden: Das verlorene (oder verdrängte) Soziale kehrt wieder. Doch es hat längst nicht mehr das Love-&-Peace-Gesicht der Sechziger Jahre. Zur sozialen „Erdung“ der Rap-Ästhetik gehört auch die Einsicht, daß Rap, von einigen Ausnahmen abgesehen, keineswegs Träger antikapitalistischer Einstellungen ist, im Gegenteil. Wenn 2Live Crew „We want some Pussy“ fordern oder Ice Cube vom „Steady Mobbin'“ singt, hat das „We Want The World And We Want It Now“ der Doors seinen idealistischen Beiklang verloren. HipHop ist auf seine Weise endgültig im Hier und Jetzt angekommen. Statt zur Verbesserung der Welt beitragen zu wollen, klagen Rapper wie Tone Loc, IceT, EPMD oder Easy-E ganz selbstverständlich ihr Menschenrecht auf Kapitalismus ein. „Bereichert Euch!“ ist die zentrale Botschaft, die sie unter die Fans streuen, während sie, von superbrüstigen schwarzen Models umringt, cool auf den Motorhauben ihrer Rap-Mobile posieren — eine späte und böse Antwort auf die in James-Bond-Szenarien vorgeführte Legierung von Status und Sex. Unter Mercedes geht nichts.

Vom Wimp zum Pimp

Trade-Mark-Fetischismus, Körperkult und die Bereitschaft, sich notfalls mit Gewalt durchzusetzen sind die habituellen Entsprechungen einer Welt, in der ungeschützte Arbeitsverhältnisse an der Tagesordnung sind und die Bereitschaft zum Erstschlag in sozialen Konflikten entscheidend sein kann. Die Entwicklung geht vom Wimp zum Pimp: Der Klageton des vereinsamten Individuums, der die Independent- Ästhetik der achtziger Jahre bestimmte (und von Patrick Stephen Morrissey so genau und bleeding getroffen wurde), ist fast gänzlich verschwunden zugunsten einer aggressiven Wendung nach außen, deren eigentlicher Avantgardist nicht mehr der Oberschüler ist. Kapuzenpullis und Muscle-Shirts sind Proll-Moden, Anti-Lifestyle-Lifestyle — längst auch in Ländern wie der Bundesrepublik. Der Schulabgänger mit schlechten Chancen erkennt in dem finsteren Vorstadttypen, den Ice Cube in „Boyz'n The Hood“ mimt, nicht nur den romantischen Leinwandhelden, sondern auch den realen Underdog — eine mögliche Variante seiner eigenen sozialen Zukunft. Für die es sich zu rüsten gilt: Was in den unzähligen Bodybuilding-Studios von Kirchheim/Teck bis Neukölln betrieben wird, ist auch Antwort auf die alltäglich erlebte Realität des Survival Of The Fittest.

Wenn HipHop der musikalische Ausdruck des späten, nicht mehr sozialstaatlich abgefederten Konkurrenzkapitalismus ist, dann ist der Gangster/Zuhälter („Pimp“) dessen extremste Ausformung und somit Idealmodell. Ohne es explizit zu machen, bezieht sich Jacob noch einmal auf den Marxschen Ideologiebegriff, um den Pimp-Style als ebenso angemessenes wie barbarisches Leitbild der Gegenwart zu fassen: Der Gangster ist einerseits ein Outlaw, sein ökonomisches und sexuelles Haben- Wollen „Protestation“ gegen die Verhältnisse, die ihn hervorgebracht haben, zugleich aber auch das beste Beispiel für deren unfreiwillige Bestätigung. Denn nicht nur in seinem Verhalten Frauen gegenüber dreht der Pimp weiter an der Spirale der Repression, auch er selbst kann ihr am Ende zum Opfer fallen — ganz einfach, weil sein undemokratischer Aufstieg zwangsläufig ebenso undemokratische Nachahmer auf den Plan ruft. Die mit Abstand meisten Morde an Schwarzen in den USA werden von Schwarzen begangen.

Viel Spielraum für sozialutopisches Denken bleibt da nicht. Auch die Posses, Gangs, Units, Clans und Tribes, die zum Erscheinungsbild des HipHop gehören, sind nicht so sehr soziologischer Ausdruck kumpeliger Ghetto-Solidarität als notwendige Organisationsform zur mittelfristigen Durchsetzung von Interessen, eine Art Klein-Mafia, vergleichbar den Lobbys und Seilschaften, ohne die hierzulande ja auch nichts mehr geht.

Horkheimer revisited

Das Beste an Jacobs Ergänzung zu Dufresnes Fleißarbeit ist ihr unpopulärer Wille zur Analyse, zum Ziehen von Parallelen, die scheinbar Fernes in die Nähe rücken. Er leistet sich den Luxus, einige Dinge beim Namen zu nennen, über die so schon lange nicht mehr gesprochen wurde. Explicit Lyrics sozusagen. Man staunt, wie weit Jacob mit den oft totgesagten Mitteln der marxistischen Gesellschaftsanalyse kommt und begreift, warum die inneren Widersprüche und Hintergründe der HipHop-Geschichte als Bestandteil der Black Liberation weite Teile des bundesdeutschen Musikjournalismus haben alt aussehen lassen. Die Wiederkehr des Sozialen im HipHop erzwingt tatsächlich eine Neubestimmung des Verhältnisses von Ästhetik und Politik, im Grunde eine Auflösung von Pop in Wissen. Horkheimer revisited: Wer vom HipHop spricht, darf vom Kapitalismus nicht schweigen. Und darauf waren sie einfach nicht gefaßt.

So weit, so schlecht. Man sollte meinen, Jacob würde die Wirkungsmöglichkeiten des bundesdeutschen Musikjournalismus nach alldem nicht besonders hoch einschätzen und sich mit der Absolvierung der notwendigen Kritik zufrieden geben. Doch weit gefehlt. „Wenn niemand [...] die nach Auswegen und Erklärungen suchenden Rapper auf ihren Irrtum aufmerksam macht, dann bleibt ihnen nur die zeitraubende und nicht mal erfolgversprechende ,Trial & Error‘-Methode“, schreibt er gegen Ende seines „Up Date“.

Aus solchen Sätzen spricht nicht nur ein rührender, gegen besseres Wissen sich aufbäumender Glaube an den Sieg des besseren Arguments (unwillkürlich stellt man sich den Autor vor, wie er durch Compton trottet und den Unterdrückten das Licht der Aufklärung bringt), auch nicht bloß eine Jetzt-erst-recht-Reprise der schönen linken Idee des Internationalismus. „Yo! Rap Revolution“ ist, wie schon der Titel verrät, zugleich eine Art Pamphlet, das den Underdogs dieser Welt den richtigen Weg weisen will. Am Ende outet der Analytiker Jacob sich doch noch als Romantiker, und es wird klar, daß es bei seiner Suche nach dem „wahren“ HipHop auch um die Rehabilitierung traditioneller Führungsansprüche ging. Der Intellektuelle ist tot, es lebe der Intellektuelle — als Schriftleiter und Führer der Massen.

Gelinde gesagt: eine beeindruckende Volte. Sie verblüfft um so mehr, wenn man bedenkt, daß das revolutionäre Subjekt, das Jacob anvisiert, in diesem Frühjahr — genau wie in Spike Lees Film — einen ganzen Stadtteil angezündet hat, als handelte es sich um eine überdimensionale Pizzeria.

David Dufresne: „Yo! Rap Revolution. Geschichte, Gruppen, Bewegung“. Mit einem Up Date von Günther Jacob. Buchverlag Michael Schwinn. Neustadt 1992. 214 Seiten, 99Fotos, 34DM.

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