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Gefangene zu Unrecht hinter Gittern?

■ Landgericht hält den Rechnungsmodus der Staatsanwaltschaft beim Zusammenzählen von Mehrfachstrafen für rechtswidrig

für rechtswidrig

Um einen Beschluß in Richtung Legalisierung von Haschisch zu umschiffen, dennoch den wohl prominentesten Hamburger Cannabis-Gefangenen Oliver Müller endlich auf freien Fuß zu setzen, hat die Große Strafkammer 13 ein bahnbrechendes Grundsatzurteil gefaßt. Die Richter halten die bisherige Hamburger Praxis bei der Strafdauerberechnung von Wiederholungstätern für „rechtswidrig“ und „verfassungsrechtlich bedenklich“. Sitzen und saßen Hunderte von Gefangene zu lange im Knast?

Spätestens seit dem aufsehenerregenden Beschluß des Lübecker Landgerichts vom 19. Dezember 1991, einen Angeklagten wegen Cannabis-Handel und -Konsum nicht zu bestrafen, da dies verfassungswidrig sei, ist in der Justiz eine heftige Debatte um den Stellenwert der weichen Droge in Gang gekommen. Wie berichtet, hatten die Lübecker Richter die Verhandlung ausgesetzt und den Fall dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorlegt. Dieses setzt sich nun damit auseinander, ob die geltende Rechtssprechung zum Haschisch-Handel verfassungrechtlichen Kriterien entspricht.

Im Rahmen der Cannabis-Diskussion konnte sich auch der im Fuhlsbütteler Gefängnis „Santa Fu“ inhaftierte Oliver Müller Hoffnung auf eine baldige Freilassung machen. Der heute 35-Jährige war am 17. Juli 1987 wegen Haschishandels zu acht Jahren Knast verurteilt worden. Müllers Anwältin Martina Zerling wies jetzt im Rahmen eines Haftprüfungsverfahrens nicht nur darauf hin, daß sich Müller inzwischen von dieser „Szene“ losgesagt habe — wenngleich er öffentlich für die Legalisierung von Cannabis eintrete —, sondern auch darauf, „daß sich seit 1987 Veränderungen vollzogen haben, die eine Rechtssprechung, wie sie den seinerzeit verurteilten Müller traf, heute nicht mehr ermöglichen würden.“

Die Strafvollstreckungskammer verfügte daraufhin am 15. Juli, Oliver Müller nach sechs Jahren Knast inklusive Untersuchungshaft zum 22. Juli aus der Haft zu entlassen. Jedoch mit völlig anderer Begründung: Die Richter waren der Meinung, daß die „Aussetzungsreife“ der Strafe (Verbüßung von zwei Dritteln der Haft) bereits seit Monaten überschritten war und rügten die Vollstreckungsreihenfolge der Hamburger Staatsanwaltschaft. Denn die Anklagebehörde hatte bei Müllers Verurteilung vor fünf Jahren nicht nur zwei vor Jahren zur Bewährung ausgesetzte Reststrafen aus anderen Verurteilungen — insgesamt 426 Tage —, auf die acht Jahre draufgeschlagen, sondern sie auch noch vor den eigentlichen Haftantritt gestellt. Mit anderen Worten: Müller konnte die achtjährige Haftstrafe aus dem Urteil von 1987 erst 1989 antreten, nachdem er die ihm zunächst erlassenen und dann wieder aufgebrummten Reststrafen abgessenen hatte.

Und das ist nach Auffassung der Großen Strafkammer 13 „rechtswidrig“ — und zwar aus verschiedenen Gründen. Erstens: „Durch den Vorwegvollzug der widerrufenen Reststrafen verschiebt sich der Zweidrittelzeitpunkt zu Lasten des Verurteilten um die Vorwegzeit.“ Zweitens: „Zugleich wird er um die Möglichkeit der rechtlich zulässigen erneuten Aussetzung der widerrufenen Restdrittel (Reststrafe d. Red.) gebracht.“ Die Richter berufen sich auf die Rechtssprechung der höchsten Gerichte: So hat der Bundesgerichtshof entschieden, daß widerrufene Reststrafen auch dann erneut zur Bewährung ausgesetzt werden können, wenn mit der Vollstreckung noch gar nicht begonnen worden ist. Und nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts soll im Interesse der Resozialisierung von Strafgefangenen bei mehreren nacheinander zu vollstreckenden Freiheitstrafen der früheste gemeinsame Aussetzungszeitpunkt gewährt werden.

Die Hamburger Richter bemängeln überdies, daß die Bonner CDU/FDP-Koalition es versäumt habe, bei der Änderung der Strafprozeßordnung am 1. Mai 1986 entsprechende Regelungen zu verabschieden. Die Richter: „Das Unterlassen des Gesetzgebers, die für die Dauer eines Freiheitsentzugs ebenso wichtige Frage der Strafreihenfolge gesetzlich zu regeln, ist nicht nur unsystematisch, sondern verfassungsrechtlich bedenklich.“

Noch am Tag der Entscheidung vom 15. Juli blockierte die Staatsanwaltschaft jedoch die Entlassung Oliver Müllers durch Beschwerde beim Hanseatischen Oberlandesgericht, das sich nun mit der Position der Großen Strafkammer 13 auseinandersetzen muß. Anwältin Martina Zerling: „Um einen positiven Cannabis-Beschluß zu verhindern, aber dennoch Gerechtigkeit an den Tag zu legen, hat das Gericht ein ganz anderes Ding geschossen.“ Denn nach Auffassung der Juristin trifft das kritisierte Fehlverhalten der Hamburger Justiz auf „viele Gefangene zu.“ Kai von Appen

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