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»Wir hatten ganz viel Glück im Unglück«

■ Zwei bosnische Schwestern, beide Journalistinnen, konnten sich vor dem Krieg retten und sind mit Mann und Kindern bei der Niederländischen Ökumenischen Gemeinde untergekommen

Dahlem. »Wir haben ganz viel Glück im Unglück gehabt«, faßt Senada Turkovic-Marjanovic, 38jährige Journalistin aus der bosnischen Stadt Zenica und Mutter einer Tochter, die letzten Monate ihres Lebens zusammen. »Wir sind hier so gut aufgenommen worden. Wir sind die glücklichsten Flüchtlinge von Berlin«, ergänzt ihre zweieinhalb Jahre ältere Schwester Dzemka Tahiri, die mit ihrem Mann, ihrer Tochter und ihrem Sohn nach Berlin kam.

Doch sogleich korrigiert sie: Das Wort Glück wolle sie lieber streichen. »Ich fühle mich schuldig«, sagt Dzemka mit einem traurigen Blick, »daß es uns so gut geht. Wenn ich jeden Abend im Fernsehen die toten Kinder in unserer Heimat sehe, denke ich, es könnten auch meine Kinder sein. Und ich kann den Menschen dort nicht helfen.« »Ich fühle mich ebenfalls schuldig«, bestätigt Senada leise. Sie sagt sich aber auch, daß es niemanden nutzt, wenn sie sich von der Angst um ihren in Bosnien zurückgebliebenen Mann, von den Sorgen um Eltern, Verwandte, Bekannte und Unbekannte unterkriegen läßt. Trotz allem, trotz vieler grüblerischer Stunden, hat sie eine strahlende Herzlichkeit bewahrt.

Sie seien, so sagen sie selbst, »wie Zwillinge«, auch wenn sie auf den ersten Blick gar nicht so ähnlich wirken. Dzemka, die Blonde, ist ruhiger und vielleicht auch trauriger als Senada, die Dunkelhaarige. Dennoch hatten sie fast den gleichen Lebensweg: Beide gingen ins Gymnasium und studierten danach Deutsch und Weltliteratur beziehungsweise Philosophie, beide arbeiteten als Journalistinnen, beide gingen nach Berlin. »Warum imitierst du mich immer?« fragen sie sich gegenseitig und lachen.

In ihrer Heimat noch war es zunächst Senadas Idee, nach einem halben Jahrhundert Staatszeitungen die erste private Zeitschrift Mittelbosniens zu gründen. »MIG«, »meine informative Zeitung«, erschien zweiwöchentlich mit politischen, ökonomischen und kulturellen Themen und war acht Monate lang ein so großer Erfolg, daß andere dem Beispiel folgten. Senadas Wohnung wurde zur Redaktion, in der sie, ihr Mann und ihre Schwester vom Schreiben bis zum Druck alles selbst organisierten. Doch nun ist alles zerstört und das Haus der Familie geplündert — von den eigenen Nachbarn.

Nach Berlin zu gehen war jedoch Dzemkas Initiative. Vor zehn Monaten, als die Spannungen immer größer wurden, der Krieg jedoch noch nicht begonnen hatte, kam sie mit ihrem Ehemann Ramis, dem Komponisten, Musiklehrer und früheren Leiter des Symphonischen Orchesters von Zenica, um beim bosnischen Club BEHAR als Lehrerin zu arbeiten. Ein Angebot, das sich jedoch zerschlug. Dafür aber konnte Dzemka dafür sorgen, daß ihre Schwester und die Kinder, die sie als gemeinsame betrachten — »wir haben drei Kinder«, sagen sie immer — aus der Kriegshölle gerettet wurden.

Senada hatte großes Glück und passierte die Brücke zwischen Bosnien-Herzegowina und Kroatien am 15. April just in dem winzigen Moment, als sie zwei Stunden lang offen war. In Salzburg wurde sie abgeholt, nach zwei Tagen Reise war sie in Berlin. Ihr Ehemann aber, der auch für das bosnische Fernsehen arbeitet, wollte seinen wichtigen journalistischen Verbindungsposten in Zenica nicht verlassen. Die Stadt, 60 Kilometer von Sarajevo entfernt, ist inzwischen von serbischen Milizen umzingelt, und niemand weiß, wie es drin aussieht.

Aber über »Politik«, sagen sie beide, möchten sie nicht reden. Der Abscheu vor diesem unverständlichen Krieg, auch der Abscheu davor, in eine der verfeindeten ethnischen Gruppen eingeordnet zu werden, ist ihnen deutlich anzumerken. Nicht nur, weil sie selbst aus einer gemischten Familie stammen, sondern auch, weil das in ihrem früheren Leben keine Rolle spielte. »Wir haben zusammengelebt«, sagt Senada. »Die Religion, ob moslemisch, katholisch oder orthodox, war für uns Journalisten unwichtig.«

Auch jetzt leben sie wieder zusammen in einer bunten multikulturellen Gruppe. Über eine hilfreiche kroatische Restaurantbesitzerin in Dahlem lernten sie die Niederländische Ökumenische Gemeinde und deren langjährige Leiterin Bé Ruys kennen und zogen denn auch im »Hendrik Kraemer Haus« ein. Pfarrerin Ruys, die schon während der Besetzung Hollands durch die Nazis die Rettung verfolgter Juden unterstützte, hat ein großes Herz — besonders für Flüchtlinge und Ausländer. In ihrem Haus begegnet sich die ganze Welt. »Wir sind eine große Familie ohne jeden Konflikt«, sagt Dzemka. »Es kann uns nirgendwo besser gehen als hier, auch dank Bé. Ihr Optimismus ist ansteckend.«

Auch die anderen Deutschen seien alle so freundlich und hilfsbereit. »Als mein Sohn Geburtstag hatte, kam seine ganze Klasse mitsamt den Eltern. Wir haben vor Rührung geweint.« Und in der Schule seien ihre Kinder — die übrigens schon genauso gut deutsch sprechen wie sie — mit Spielzeug beschenkt worden, weil sie mit ihrer Sozialhilfe dafür nicht genug Geld haben.

Für kurze Zeit hat Dzemka eine Aushilfsarbeit in einer Fabrik für Zahnpasta und Parfüms gefunden. Sie träumt jedoch davon, irgendwo muttersprachliche Sendungen für die vielen Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien machen zu können. Beide Frauen würden gerne wieder als Journalistinnen tätig werden. »Es wäre besser«, sagt Dzemka, »wenn alle Flüchtlinge arbeiten dürften. Dann bräuchten sie nicht das Gefühl haben, dem Staat zur Last zu fallen, und müßten nicht den ganzen Tag im Heim bleiben und sich Sorgen und Probleme machen.« »Manchmal fragen wir uns, warum wir am Abend so müde sind«, ergänzt ihre Schwester. »Warum? Weil wir geweint und zu tief nachgedacht haben.« Ute Scheub

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