QUERSPALTE: Kohl, ganz privat
■ Der Anschlag zweier sächsischer Provinzpolitiker auf den Urlaub des Bundeskanzlers
Ist alles Private im Kern politisch? Linke Studenten der 70er Jahre brachten den damaligen Bundeskanzler Schmidt in nicht geringe Verlegenheit, als sie bei Wahlversammlungen im Chor den Vornamen seiner jeweiligen Geliebten skandierten. Dieses Vergnügen war so unschuldig nicht, traf es sich doch mit dem Hunger nach Intimität, dem die Politiker durch — freilich sorgfältig präparierte — Einblicke in ihren Familien- wie Gefühlshaushalt Rechnung zu tragen versuchten. Das Publikum giert nach dem ganzen Politiker, einschließlich seiner Emotionen. In seiner Selbstdarstellung als „Mensch“ in diversen Lebenslagen hat unser jetziger Bundeskanzler im Gegensatz zu seinem spröden Vorgänger, der stets auf der Trennung zwischen res politica und res privata bestand, denn auch beachtliche Erfolge vorzuweisen.
Soll dem Begründer der deutschen Einheit die Sommerfrische vom 27. Juli bis 21. August in St. Gillgen als Privatreich zugestanden werden, aus dem er nur aus freien Stücken hervortritt, um uns vom Stand seiner zyklischen Entschlackungsbemühungen in Kenntnis zu setzen.? Schwierige Frage, denn von Wilhelm II. bis Adenauer wurde gerade der Urlaub häufig genutzt, um die internationale Öffentlichkeit mit Überraschungsangriffen zu traktieren. Auch Kohl ist diese Technik nicht fremd, wie sein Eintreten für Kurt Waldheim vom österreichischen Urlaubsterritorium aus lehrt. Diese Politisierung des Privatgeheges durch den Betroffenen selbst mag zwei sächsische Politiker, den Landtagspräsidenten Iltgen (CDU) und den Fraktionsvorsitzenden der SPD im Landtag Kunckel, als Rechtfertigung gedient haben, Kohl einen Wechsel seines Urlaubsorts nahezulegen. Statt von Froschmännern abgeschirmt auf dem Wolfgangsee zu rudern, solle er die neuen Bundesländer besuchen und sich „den Fragen der verunsicherten Bevölkerung stellen“. Kunckel ging noch einen Schritt weiter. Der Bundeskanzler solle sich „über den Untergang der Industrie und die Wohnverhältnisse der Menschen informieren“.
Glänzende Urlaubsperspektiven zwischen dem entnadelten Erzgebirge und dem Kaffeetisch in der Leipziger Vorstadt, wo der Bundeskanzler außer von Kalorienbergen auch noch von den Klagen der sächsischen Landeskinder überhäuft wird. Dem Parteifreund Iltgen ist angesichts solcher Schreckensvisionen vor der eigenen Courage angst und bange geworden. Er wolle, so präzisierte er in der Dresdener Morgenpost, den Kanzler auf alle Fälle zum Tag der Sachsen in Freiberg einladen. Der aber findet am 1. September statt, zehn Tage nach Urlaubsende. Christian Semler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen