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DER KOLUMBUS DES MODERNEN ALPINISMUS

■ Vor 500 Jahren bestieg der Franzose Antoine de Ville den Mont Aiguille

Vor 500 Jahren bestieg der Franzose Antoine de Ville den Mont Aiguille

VONLUDGERLÜTKEHAUS

Der erste Anblick erregt das blanke Entsetzen. Wie, dieser nach allen Seiten fast senkrecht abstürzende Berg soll ersteigbar sein? Gar für einen einzelnen, der nicht zu den Extremkletterern zählt und von dem Seil, das er mitführt, allenfalls im Abstieg Gebrauch machen kann? Und auch auf den zweiten Blick, wenn man sich von Nordosten, dem Dorf St.-Michel-les-Portes, 40 Kilometer südlich von Grenoble am Rande des Vercors gelegen, dem Mont Aiguille nähert, ist er alles andere als einladend. Seine absolute Höhe ist nicht bemerkenswert: schlappe 2.097 Meter. Aber wie er diese Höhe erreicht! 900 Meter mißt seine höchste Wand. Und noch auf seiner zugänglichsten Stelle warten über 300 Meter luftigste Kletterhöhe. Wahrhaftig, dieser Berg verdient seinen Namen: Mont Aiguille— der „Nadelberg“.

Hier fand ein spektakuläres Ereignis der Alpingeschichte statt: Vor exakt 500 Jahren, dreieinhalb Monate bevor Kolumbus Amerika „entdeckte“, ist der Mont Aiguille zum ersten Mal bestiegen worden; es gibt auch einen Kolumbus der Bergsteigerei. In der letzten Juniwoche 1492, beurkundet am 28. Juni, hat der königliche Söldnerführer Antoine de Ville den Gipfel erreicht, und zwar auf der Route, die heute als „Normalweg“ gilt. Wie war das überhaupt möglich? Und was trieb de Ville auf einen Berg, der nicht umsonst der „Mons inaccessibilis“, der „unmögliche Berg“, hieß?

De Ville konnte nicht von Kolumbus wissen. Aber beide Unternehmungen ergänzen sich auf charakteristische Weise. Kolumbus erkundete die Welt in der Horizontalen — de Ville maß sie in der Vertikalen aus. Renaissancemenschen alle beide, muß sie ein Entdeckungs-, ein Eroberungswille getrieben haben, der sie in unterschiedlicher Richtung extreme Dimensionen suchen ließ.

Bevor ich mich endgültig dem königlichen Oberbergsteiger und mit ihm dem Berg nähere, schweife ich am Fuß des Mont Aiguille weiter in die Geschichte der frühen Bergsteigerei ab. Das gibt Aufschub, noch einmal mildernde Umstände und vor allem willkommene Gesellschaft: fatal, wie einsam man sich immer wieder vor furchteinflößenden Bergfahrten fühlt.

Gipfelangriff Gipfelkrieg, Gipfelsieg

Der Anfang der mythologischen Bergerschließungsgeschichte ist nicht eben vielversprechend: Sollte es tatsächlich die Besteigung des Ätna durch den Philosophen Empedokles im fünften vorchristlichen Jahrhundert gewesen sein, der sich auf dem Gipfel in den Krater stürzte, weil er so etwas für seine Vergöttlichung zu tun hoffte? Nun ja, dann wäre der Urahne der Bergsteiger ein hybrider Selbstmörder gewesen — und kein sonderlich erfolgreicher dazu; denn Empedokles verlor am Kraterrand eine Sandale und bewies mit dieser höchst irdischen Hinterlassenschaft, daß es doch nicht so weit her mit seiner Göttlichkeit war. Ich jedenfalls werde meine Bergschuhe zusammenhalten.

Aber da ist ja der alpinistisch so erfolgreiche Hannibal. Hat er nicht sein gigantisches Heer mit seinen noch gigantischeren Kriegselefanten über die Alpen gebracht, über Pässe und Berge, die dem römischen Naturhistoriker Plinius sage und schreibe 74.000 Meter hoch erschienen? Und hat der Militärbergsteiger Hannibal nicht auch schon jenes Motiv in Reinform demonstriert, das noch heute die Bergheroen in geringfügig verwandelter Form umtreibt: Gipfelangriff, Gipfelkrieg, Gipfelsieg? Aber auch für Hannibal nahm die Bergfahrt, wie man weiß, einen verlustreichen Verlauf und schließlich historisch ein böses Ende.

Besser hält man sich also an die berühmte Besteigung des Mont Ventoux, des „windumtosten Berges“, durch den italienischen Dichter Francesco Petrarca. Ihm gelang es, diesen Kilimandscharo der Provence an einem einzigen Tage, dem 26.April 1336, zu erklettern, genauer: zu erwandern. Und literarisch gewissenhaft, wie er war, hat er noch am Abend desselben Tages sein Bergerlebnis beschrieben. Da nennt er als Mensch der Renaissance, der beginnenden Neuzeit, der auf die Entdeckung der Welt, der Natur, der Landschaft begierig ist, zunächst nur das „Verlangen, die namhafte Höhe des Ortes kennenzulernen“, als sein Motiv. Und auch ein warnender alter Hirte, der fast 50 Jahre vor ihm auf dem Gipfel war, kann ihn nicht abhalten. Im Gegenteil: Die Schwierigkeit verstärkt das Verlangen, der Widerstand stimuliert den Willen zur Überwindung. Das klingt mir doch sehr vertraut.

Aber dann, bei der Steilheit des Anstiegs, wird es mühsam. Statt wie sein jüngerer Bruder geradewegs den Gipfel zu suchen, weicht Petrarca in die Horizontale aus. Und diese Kompromißlösung ist zu sinnfällig, um nicht noch einmal im mittelalterlichen Sinn als Versuchung der unsterblichen Seele gedeutet zu werden. Zum Gipfel überirdischer Seligkeit gelangt man nur, wenn man den Versuchungen des Leibes und den Annehmlichkeiten der Horizontale nicht nachgibt! Hat man freilich die Versuchung überwunden, dann wartet oben die Begegnung mit dem Allerhöchsten: Petrarca betrachtet hier weit weniger die schöne Welt, als daß er in den mitgeführten „Bekenntnissen“ des skrupulösen Heiligen Augustinus liest. Auch er also, der als neugieriger Erkunder begann, endet wieder bei jenem moralisch-allegorischen Seelendrama, das selbst kompakteste Berge transzendent durchsichtig macht.

Anders Leonardo da Vinci. Als Sechzigjähriger besteigt er im Jahr 1511 den 2.566 Meter hohen Monboso im Monte-Rosa-Gebiet. Und was er dort mit naturwissenschaftlich geschultem Blick beobachtet, ist die reine Bergnatur und nichts als die reine Bergnatur.

Ähnlich der Humanist Konrad Gesner ein halbes Jahrhundert später. Als er 1555 den Pilatus bei Luzern erklettert, ergeht er sich zwar sehr wohl in den Harmonien der alpinen Himmelswelt, deren Schweigen den Lärm der Städte und die Zänkereien der Menschen vergessen läßt. Aber die Legenden, die die Einheimischen über den verwunschenen Berg und seinen verteufelten Namensgeber verbreiten, finden bei ihm „keinen Glauben“ mehr, weil sie — ganz lakonisch wird es gesagt — „einer natürlichen Begründung oder Ursache“ entbehren.

Zum Ruhm der Krone und mit Leiterträger

Antoine de Ville hat also bei seiner Besteigung des Mont Aiguille im Jahre 1492 aus alpinistischer Sicht zwischen religiösem Seelendrama und Naturkunde, Erobererattitüde und selbstmörderischer Hybris die Wahl. Von der Last allzugroßer Selbständigkeit und Eigenverantwortung ist de Ville allerdings erst einmal befreit. Er handelt nicht aus eigenem Antrieb, sondern in königlichem Auftrag: Karl VIII. von Frankreich hat ihn zum Ruhme der Krone mit der Besteigung des unbesteigbaren Berges, dieses Wunders der an Wundern so reichen Dauphiné betraut.

An Gehorsam fehlt es einem rechtschaffenen königlichen Hauptmann ohnehin nicht; selbstverständlich auch nicht an Mut, nötigenfalls an Todesmut, an Umsicht und an der Gewohnheit, seinerseits zu befehlen. So kommandiert de Ville zehn erfahrene Jäger an den Fuß des Berges; außerdem, damit die Expedition den höchsten Segen habe und man im Notfall nicht ohne geistlichen Beistand sei, einen Abbé und für die Beurkundung des Ereignisses einen Notar. So kühn das Unterfangen auch ist, so konventionell wird es als höfische, geistliche und juristische Mission konzipiert.

Die Krone des Ganzen gebührt aber ohne Frage dem mitgebrachten „königlichen Leiterträger“; denn erst mit seiner Hilfe verspricht der Berg seinen sperrigen Namen zu verlieren. Diese Bergexpedition ist von Anfang an eine technische Unternehmung mit künstlichen Hilfsmitteln; ein königlicher Söldnerführer ist eben auch mit Logistik und Ballistik vertraut. Kurzum: Der Berg als Festung wird von einer belagerungserfahrenen Truppe attackiert.

Allerdings: Als ich am nächsten Morgen verzagend den Wandfuß hinaufblicke und erst ziemlich weit oben den ersten Sicherungsring entdecke, hätte ich selber recht gern einen königlichen Leiterträger zur Hand. Aber wie sind de Ville und die Seinen nur mit ihren Leitern hinaufgekommen, mit ihrem unzureichenden Schuhwerk und in ihrem höfischen Dress? Wie fanden sie Zwischenstand und Sicherung? Oder haben sie aus der ganzen Tour in mehrtägiger Arbeit, in wiederholtem Auf- und Abstieg, schon einen richtigen Klettersteig im Stil der Dolomiten- Klettersteige gemacht? Trotz aller Hilfsmittel muß es jedenfalls für die Erstbegeher eine Tour an der Grenze ihrer Leistungsmöglichkeiten gewesen sein, und das in vollkommen unbekanntem Gelände. Ich weiß ja dank der Markierungen wenigstens, welche Richtung ich einzuschlagen habe. Außerdem weiß ich, in welchem Rahmen sich die klettertechnischen Schwierigkeiten bewegen werden.

Die ersten hundert Höhenmeter haben es in sich: luftig, tritt- und griffarm. Sollte ich nicht besser gleich umkehren und dem Unersteigbaren wenigstens meinerseits den verlorenen Namen zurückgeben? Aber bin ich für eine Niederlage hierhergekommen? So erreiche ich schwitzend den leichteren, schräg nach oben führenden und mit einem Drahtseil gesicherten Wandteil: In die schwindelerregende Tiefe blickt man besser nicht. Die Verschnaufpause beim kurzen Zwischenaufstieg in die Wandschlucht werden sich auch de Ville und seine Leute gegönnt haben.

Bei dem folgenden Anstieg fand de Villes Truppe trotz zweier Quergänge gewiß gute Möglichkeiten, ihre Sturmleitern zu postieren. Doch das ziemlich böse Ende kam und kommt auch für mich mit dem 100 Meter hohen, von sechs überhängenden Felspartien blockierten Ausstiegskamin. Sicher, er ist nicht mehr so exponiert wie der untere Wandteil und die Traversen. Man kann hier den Kopf gleichsam in der Wand bergen; man muß nicht zwischen den Beinen hindurch ins Bodenlose blicken. Aber hier wird es vollends unvorstellbar, wie die Erstbegeher hinaufgekommen sind: mit ihren schweren Leitern und ohne die Drahtseilhilfe, die es heute auch in diesem Stück gibt.

Trotz dieser Hilfsmittel hält mich der enge und glattwandige Kamin so in Atem, daß ich de Ville und seine Truppe für eine Zeitlang vergesse. Ächzend, von Schneeresten eingenäßt, dreckverschmiert, schwitzend, schramme ich mich mühselig hinauf. Dann, am lichteren Ende, ein unangenehmer Ausstieg über nasses Gras — gerade richtig, um postwendend durch den Kamin und über die Wand wieder abzufahren. Schlimmer kann auch kein Festungsbelagerer am oberen Rand der Mauern empfangen worden sein. Doch dann, ja, dann jene Überraschung, von der de Ville noch nichts wissen konnte, um so tiefer muß sie ihn berührt haben: Auf diesem unzugänglichen Fels erstreckt sich eine weiträumiges, grasbewachsenes Gipfelfeld. Die jähe Vertikale geht unvermittelt in die schönste aller Ebenen über. De Ville maß ihre Breite, wie es sich für einen königlichen Kriegsmann gehörte, mit einem Bogenschuß. Gleich mehrere Tage ist er mit seinen Leuten oben geblieben — anders als die hastigen Bergsteiger von heute, die ihre Gipfel wie Trophäen sammeln, kurz ihre Erkennungsmarke deponieren, ihr Gipfelfähnchen einpflanzen, ihr Belegfoto schießen, um zur schnellstmöglichen Presseverwertung wieder abzusteigen.

Freilich war auch de Ville oben keineswegs untätig: Ein kontemplativer oder gar meditativer Geist war er nicht. Der Speisezettel wurde aus den Beständen eines Gamsrudels angereichert, das man oben angetroffen hatte. Ein Kitz war versehentlich dabei getötet worden; dafür hätte de Ville lieber, wie er vermerkt, erst einmal die königliche Order abgewartet. Mit dem tod- und gewaltlosen, irrtumsfreien Paradies war es auch auf den Gipfeln der Erde nichts.

Nichtsdestoweniger dankte man dem Himmel und versuchte ihn für den Abstieg günstig zu stimmen. De Ville taufte den Berg mit Hilfe des jetzt endgültig aktiv werdenden Abbés im Namen seines Gottes und zu Ehren seines Königs, ließ eine Messe lesen und an den Ecken des Gipfelplateaus drei Kreuze errichten. Sie machten aus der freien Fläche einen sakral umgrenzten und in Besitz genommenen Raum.

Herausforderung Gottes höfisch bezeugt

Den Stellvertretern seines irdischen Herrn aber, dem königlichen Gerichtshof in Grenboble, schickte de Ville einen Brief, in dem er davor warnte, den „fürchterlichsten und grauenerregendsten Weg, den er je beschritten“, noch einmal begehen zu lassen. Andererseits wollte er den Gipfel nicht eher verlassen, als bis man seinen Gipfelsieg bestätigt hätte. Die pure Behauptung, mochte sie auch von einem königlichen Notar beurkundet worden sein, genügte schon damals offenbar nicht. Wie dieser Brief besorgt worden ist, wie der oder die Boten abgestiegen sind, das ist nicht weniger erstaunlich als der Aufstieg. Auf jeden Fall hat de Villes Brief seine Adressaten erreicht. Der unverzüglich ausgesandte Grenobler Bote, ein Mann namens Ive Levy, konnte tatsächlich die Besteigung bezeugen. Er sah in den Wänden des Berges Leitern lehnen und an den Abbrüchen des Gipfelplateaus die Menschen und die Kreuze stehen, ohne daß er hier folgen mochte, „weil er Gott nicht noch einmal herausfordern wollte“. So blieb der Mont Aiguille bis 1834, als ein Schäfer de Ville nachfolgte, unbestiegen.

Bleibt nur noch nachzutragen, was dann der Berichterstatter des Jahres 1992 oben gemacht hat. Nun, er ist keine drei Tage oben geblieben; er hat keine Messe lesen lassen; er hat auch keine Briefe geschrieben. Statt dessen haben ihn die schönsten Küchenschellen, denen er je begegnet ist, dazu der Blick über die Wälder und Berge des Vercors bis hin zu den Eisriesen der Dauphiné erfreut.

Dann wäre es Zeit gewesen, in aller Ruhe zu vespern. Doch nicht einmal die zarteste Gemse hätte seinen Appetit erregt. Ihm lag der drohende Abstieg im Magen und das Bewußtsein, einer eindrucksvollen Fallhöhe leiterlos, söldnerlos, wenn auch nicht seillos preisgegeben zu sein. Der reine Genuß der Vertikalen — der stellt sich eben nicht auf Gipfeln, sondern erst auf dem wiedergewonnenen festen Boden ein. Und den Mont Aiguille als ganzen sieht man erst, wenn man nicht mehr oben ist.

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