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Wann sind die Fahrräder retour?

■ Das Leipziger Schauspiel beginnt sich zu konsolidieren

Das „Schauspielhaus“ in Leipzig ist eine Diskothek — zumindest, wenn ortsansässige Taxifahrer die Stadtchronik schreiben. Denn kein Chauffeur käme auf die Idee, den Fahrgast bei Zielangabe „Schauspielhaus“ am Eingang des Theaters zu entlassen — gleich um die Ecke, auf dem legendären Demo-Dittrichring, buhlt eine „Schauspielhaus“ bezeichnete Diskothek um Besucher. Vor das stadtbekannte Etablissement hat der Geschäftsführer einen finster blickenden Einlaßdienst gestellt. Dreißig Meter zurück, im Foyer des Theaters, ist der Einlaß freundlicher — man hat weniger zu tun.

Dort ist man nicht auf den Mund gefallen. Der Intendant des Theaters, Wolfgang Hauswald, meint: „Wir gehören jetzt zu den zehn führenden Schauspielhäusern Deutschlands.“ Leipzigs Einwohner ahnen davon allerdings nichts.

Denn vorbei sind die Zeiten, in denen für Vorstellungen wie Kreislers „Lola Blau“ eine zweieinhalbjährige Anmeldezeit vonnöten war, vorbei die Zeiten, als Aitmatows „Jahrhundertweg“, Bulgakows „Meister und Margarita“ oder „Einer flog über das Kuckucksnest“ (nach Ken Kesey) vom zumeist jugendlichen Publikum gestürmt wurden. Erinnerungen an die achtziger Jahre sind es, die den Chefdramaturgen Wolfgang Kröplin verfolgen: „Ich hoffe, daß eines Tages die Fahrräder wieder vor dem Hause stehen.“ Also nicht nur ein interessiertes Publikum, dazu noch jung, kritisch und offen für Experimente.

Das gesellschaftliche Umfeld steht diesem Wunsch im Wege. Das Ensemble kann Faxen machen oder zu Tränen rühren, es kann Clownsmasken aufsetzen oder solche vom Gesicht reißen — es kümmert keinen. 44 Prozent Auslastung im Großen Haus, 66 in der „Neuen Szene“, einer Experimentalspielstätte, und 59,2 Prozent im kleinen Kellertheater, so lesen sich die Auslastungszahlen für Leipzigs Stadttheater. Da der Besucherandrang im 770 Plätze fassenden Großen Saal ganze zehn Anrechtsvorstellungen zuläßt, wurde in der letzten Spielzeit eine Premiere nach der anderen herausgebracht, darunter sehenswerte und teilweise spektakuläre Inszenierungen: „Abdeckerei für alle“ (Regie: Konstanze Lauterbach), „Lessings Nathan“ (Regie: Lutz Graf) und „Geschichten aus dem Wienerwald“ (Regie: Horst Ruprecht). Zugleich gab es eine große Anzahl guter Soloprojekte, solides Provinztheater („Mein Kampf“, Regie: Eduard Mitnizki) und einen Flop („Die Wildente“ in der Inszenierung von Dietrich Kunze). Die Plakate zur letzten Spielzeit lassen, nebeneinander gehangen, konzeptionslos oder besser: als Konzeption, einen Gemischtwarenladen erkennen. Angebote für alle, bloß „kein seichtes Theater“, wie Intendant Hauswald sagt. „Lessings Nathan“, eine frappierende Inszenierung über das Ende der Aufklärung, scheiterte nur knapp an einer Nominierung zum Berliner Theatertreffen.

„Es gibt keinen Sinn, sich über das Nein der subalternen Kunstbeamten zu ärgern“, meint Horst Ruprecht zur Juryabsage. Ab September übernimmt er das Amt des Schauspieldirektors. (Das ZDF zeichnet die Inszenierung dieser Tage auf.) Mit Ruprechts Engagement schließt sich im Schauspielhaus der Vorhang für ein „Theater im Theater“. Denn die Suche nach einem Schauspieldirektor wurde für das Haus zu einer Suche nach dem eigenen Verständnis. Diese dauerte länger, weil das Verständnis erst neu definiert werden mußte. Guido Huonder, jetzt Intendant in Potsdam, scheiterte an diesem Klärungsprozeß. Als Kandidat für den Posten soll er Anfang 1990 mit einer salopp zum Ensemble gesendeten Bemerkung die Bühne betreten haben: „Sie sind aber viele hier.“ Soziale Ängste haben im Osten fast alle, und am Theater sind die Beschäftigten auch noch empfindlich. Guido Huonders Einsetzung zog sich dahin, bis er entnervt das Handtuch warf.

Mit Horst Ruprecht hat Leipzig nun einen künstlerischen Direktor gefunden, der, auch als Außenstehender, akzeptiert wird. Seine Antrittsinszenierung, „Geschichten aus dem Wienerwald“, wurde mit stehenden Ovationen aufgenommen, stellte somit Vertrauen zum Ensemble her. Mit der Devise „Theater funktioniert nur, wenn es voll ist“, will Ruprecht, der 1989 die noch existierende DDR verließ und fortan in Wien arbeitete, das Leipziger Haus wieder füllen. Seine Rezeptur: Volkstheater, Stücke der zwanziger Jahre, sinnliche Geschichten.

Das Fundament, auf dem Theaterarbeit in Leipzig bauen kann, sind die hauseigenen Schauspieler. Einige Mimen wird Ruprecht neu engagieren — wenn er sie bezahlen kann. Dabei werden „Einkäufe“ durch die Tatsache erschwert, daß übliche Westgagen nicht annähernd gezahlt werden können. Aber es wird Unterschiede geben: Der Kantinentratsch bezieht seinen Gesprächsstoff aus dieser Differenz.

Aber gerade die Inszenierungen der letzten Spielzeit haben gezeigt, daß bei genauer Arbeit mit dem Ensemble ungeahnte Potenzen freigesetzt werden können. Allerdings konzentriert sich der Spielbetrieb derzeit auf ein Dutzend völlig überbelasteter Schauspieler wie Frank Sieckel, Jochen Noch, Bernd Stübner, Friedhelm Eberle oder Matthias Hummitzsch, die in jeder zweiten Aufführung agieren. Andere füllen Gehaltslisten statt Besetzungszettel, können aber aufgrund gesetzlicher Regelungen nicht gekündigt werden.

Allmählich wächst die gesellschaftliche Akzeptanz. Der Oberbürgermeister schaut öfter vorbei, und nach den Premieren gibt es Empfänge. „Das haben wir von der Oper übernommen“, sagt Hauswald. Speisen und Getränke für diese Gesellschaftstreffs stellt die benachbarte Diskothek „Schauspielhaus“ kostenfrei zur Verfügung. Wenn dies aus Imagegründen geschieht, muß das Sprechtheater besser sein als sein Ruf. Lutz Stordel

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