: Das Seelenpanoptikum als Geisterbahn
■ Das Walser-Ensemble spielt August Stramms vergessenes Stück »Kräfte«
Nach seiner schrägen (und erfolgreichen) Exkursion in Robert Walsers Liebesleben präsentiert das Walser-Ensemble einen weiteren Abend für Liebhaber des Exzentrischen: Ulrich Simontowitz inszenierte ein kurzes Stück des Hardcore-Expressionisten August Stramm: »Kräfte«, geschrieben 1915, kurz vor Stramms Tod im Schützengraben, uraufgeführt 1919, heute vergessen und kaum noch gespielt.
Die Bühne von Peter Koch zeigt die merkwürdige Mutation eines bürgerlichen Wohnzimmers: Vorne ein Sessel, an der Wand ein Spiegel, in der Bühnentiefe ein Sofa, Tisch und Stühle, dahinter eine Fensterfront. Die gutbürgerliche Gemütlichkeit ist gespenstisch verzerrt: Sessel, Sofa und Wände sind mit Sackleinenbedeckt, aus Sackleinen sind auch die Gardinen, und über die meisten Fenster sind Bretter genagelt. Ein Wohnzimmer wie aus dem Totenreich, das Bürgertum geistert nur noch wie eine seltsame Erinnerung durch diese Traumlandschaft. Ähnlich zitieren die Kostüme (Stephan Dietrich) den Chic der Jahrhundertwende: Statt eines Monokels hat der Ehemann ein schwarz umschminktes Glasauge, die elegante Kleidung des Besuchers ist knallrot und aus Plastik, der Rock der Dame fast durchsichtig, so daß ihre prächtigen Strapse zu sehen sind.
Mit dieser schrillen Travestie der Bürgerkultur reagiert die Ausstattung präzise auf Stramms Stück: Stramm nimmt einige Grundmuster aus dem Arsenal der Familientragödien und reduziert und verstümmelt sie. Von den Bewährungsproben, die das bürgerliche Heldenleben zu bieten hat, bleibt ein zuckendes Skelett übrig: Ein Ehepaar (Nela Barsch und Jürgen Wink) bekommt Besuch (Eva Mannschott und Viktor Schefé), es wird sich überkreuz gesehnt und geliebt, abwechselnd gehen Ehemann und Besucherin, Gattin und Besucher auf dem praktisch bereitstehenden Sofa in den Clinch, der Mond liefert die lyrischen Stichworte (— »der Mond« — »ja... der Mond«) und am Ende erledigen sich die Herren gegenseitig im Duell, während die Dame des Hauses erst die Besucherin ersticht und sich selbst zum Finale vergiftet.
Soweit der Plot, der nicht mehr ist als Rohstoff für ein aberwitziges und entspannt ironisches Spiel. Da Stramms Geschöpfe nur abgehackte Satzfetzen hervorstoßen und weit von realistischen Figuren entfernt sind, läßt sie der Regisseur wie Sprechpuppen, wie seltsame Marionetten agieren. Immer wieder fühlt man sich an die Schauspieler der expressionistischen Stummfilme erinnert. Zur irrealen Atmosphäre gehören Stimmen aus dem Off, ein knallrot angeleuchteter Horizont hinter den Fenstern, Musikfetzen und eine kleine Explosion: Das Seelenpanoptikum als Geisterbahn.
Grandios ist das Finale: Die Duell-Leichen der beiden Herren sitzen (nun auch in Sackleinen gekleidet) steif und bleich auf dem Sofa und sprechen die Regieanweisungen des letzten Mordes und Selbstmordes: ein einfaches und wirkungsvolles Mittel, das witzig und lakonisch die Mordarien vom Pathos befreit, sozusagen trockenlegt. Als Schlußtableau sind, zärtlich aneinandergeschmiegt, die Toten auf dem Sofa vereint.
Hineinmontiert in Stramms Stück ist eine Erzählung Stanislaw Lems, die Sabine Vitua als »Stimme der künstlichen Intelligenz« zwischen den Szenen — nicht erzählt, sondern eigentlich spielt: Äußerst witzig und mit großem Gespür für Lems trockene Ironie trägt sie seine Variante der Vorgeschichte des Urknalls vor: Die Kosmosgonie als Explosion, entstanden aus dem Versuch zweier Konstrukteure, alles Denkbare zu denken: »Das Unglück, das die Unwissenden in ihrer Unwissenheit als die Entstehung der Welt bewundern.« Das hat zwar mit Stramms Geschichte nichts zu tun (oder nur um einige ziemlich vertrackte Ecken herum), liefert aber eine subtile Attacke gegen die Versuche, die Wirklichkeit eindimensional verständlich zu halten — gegen die auch Stramms Literatur untergründig polemisiert.
Der schönste Kommentar zu Stramms heftigen Sprachspielen stammt von Kurt Schwitters: »Die Verdienste Stramms um die Dichtung sind sehr.« Die Verdienste dieser Inszenierung um Stramm sind auch sehr. Peter Laudenbach
»Kräfte« von August Stramm, gespielt vom Walser-Ensemble im Ensemble-Theater (Südstern, Hasenheide 54), bis zum 7.9., Freitag bis Montag, 21 Uhr
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