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Aus für 100 Jahre Elbufer-Bebauung

■ Abriß der Häuser am Pinnasberg hat begonnen / Kirchenglockenläuten, brennende Barrikaden und Demonstrationen begleiten den Beginn der Demontage / Kirche entschied gestern abend über Klage gegen Abriß...

/ Kirchenglockenläuten, brennende Barrikaden und Demonstrationen begleiteten den Beginn der Demontage / Kirche entschied gestern abend über Klage gegen Abriß / Proteste auch im Rathaus

Unter starken Polizeischutz — zum Teil mit schweren Räumgeräten — ist gestern morgen der Abriß der sechs umkämpften historischen Pinnasberg-Häuser in Angriff genommen worden. Nachdem um kurz vor sieben Uhr Polizeieinheiten die Gebäude umstellt hatten, begannen Bauarbeiter mit dem Aufbau der 10000 Mark teuren Baustellensicherung für das Areal.

Der Zeitpunkt des Abrißbeginns war von Hafenrand GmbH-Chef Wolfgang Dirksen geschickt gewählt: Zwei Tage vor Beginn der zweiten Runde um die Hafenstraßen-Räumungsprozesse hätte womöglich nochmals eine prozeßbeeinflussende Eskalation am Hafenrand provoziert werden können. Zudem hatte am Montagabend der Bauaussschuß des Bezirks Altona den Hafenrand GmbH-Neubauantrag verworfen und an den öffentlichen Sanierungsausschuß zur Diskussion weitergeleitet. Mit dem Beginn der Abrißarbeiten hat Dirksen jetzt den Bezirksparlamentariern die Pistole auf die Brust gesetzt. Und nicht zuletzt: Der Kirchenvorstand der Gemeinde St. Pauli-Süd hatte angekündigt, gestern abend über eine Klage gegen den Abriß zu beschließen, die vielleicht noch alles stoppen kann, nachdem ein GAL-Gutachten die Abrißverfügung als „rechtswidrig“ klassifiziert hat.

In St. Pauli-Süd verbreitete sich die Nachricht über den Beginn der Arbeiten wie ein Lauffeuer. Unmittelbar nach dem polizeilichen Aufmarsch hatten die Kirchenglocken Alarm geschlagen. Vor den Hafenstraßenhäusern ging eine Barrikade in FLammen auf: Die BewohnerInnen brachten so ihre Wut über den Senatscoup zum Ausdruck. Behelmte Polizisten rückten vor. Unter Polizeischutz löschten Feuerwehrleute die brennende Schutthalde. Es kam zu keiner Eskalation, der Verkehr stockte allerdings fast zwei Stunden lang.

Auch das Kollegium sowie die SchülerInnen der benachbarten Friedrichschule versammelten sich vor den Polizeisperren an den Häusern. Schulleiterin Jutta Reinitzer informierte ihre SchülerInnen vor Ort über die Hintergründe der stadtstaatlichen Kahlschlagaktion. Viele dieser Kids, die Opfer von Gewalt im Stadtteil geworden sind, hatten gehofft, in der historischen Häuserzeile sozialpädagogische Betreuung zu bekommen. Unter Obhut des kirchlichen Diakonischen Werkes sollte nämlich dort eine Kindertagestätte, ein Jugendwohnprojekt „Eltern und Kinder“ sowie zwei Wohngruppen für mißhandelte Kinder sowie für junge und alte Menschen entstehen.

In den Morgenstunden war die Kirche ein zentraler Anlaufpunkt. Zuerst versammelten sich Gemeindemitglieder zu einem „Abschiedsgottesdienst“ für die Häuserzeile. Kirchenvorständler Freimut Reichert ermahnte: „Laßt euch nicht provozieren, aber zeigt euren Unmut über den Abriß.“ Er erntete dafür Widerspruch. „Wir haben noch viel Zeit, den Abriß zu verhindern.“ Unter den KirchenbesucherInnen waren auch später viele Hafenstraßen-BewohnerInnen, die mit ihren Nachbarn das weitere Vorgehen abstimmten.

Der Unterricht in der Schule Friedrichstraße fiel aus, stattdessen beschloß das Kollegium, einen Projekttag „Sanierung in St. Pauli“

durchzuführen. Was das alles bedeuten kann, bekamen die Pennäler und ihre Pauker hautnah zu spüren. „Können sie ihren Ausflug bitte außen 'rum fortsetzen, hier gibt es nicht zu sehen,“ stoppte ein Polizist den Pennälerpulk. „Allein, daß Sie hier sind, daß unter Polizeischutz Häuser abgerissen werden, ist interessant genug“, erwiderte ein Lehrer. Kleine Rempeleien bestimmten das Tagesgeschehen. Immer wenn ein Lastwagen den Pinnasberg passieren wollte, drängten Polizisten Protestler von der Fahrbahn auf den Gehweg ab. Ein Einsatzleiter: „Für uns ist das doch

auch eine unangenehme Sache.“ „Das sollte es auch, Sie sind nämlich hier ein Fremdkörper“, erwiderten Anwohner.

Am Mittag protestierte eine Delegation im Rathaus. Entgegen der Ankündigung, daß Bürgermeitser Henning Voscherau nach der Senatssitzung zum Pinnasbergabriß Stellung nehmen werde, erschien der Senatsvorsteher dann lieber doch nicht und ließ sein neues Sprachrohr Jutta Köhn im Regen stehen. Köhn verwirrt: „Ich weiß nicht, wie diese Information entstanden ist.“

In den Abendstunden versam-

melten sich dann rund 100 Menschen des Hafenstraßen-Umfelds zu einer Spontandemo durch St. Pauli- Süd. Weil ihnen der Durchgang zu den Pinnasberg-Häusern verwehrt wurde, marschierten sie über die Hafenrandstraße und legten erneut den Verkehr lahm. Tenor: „Senat vertreiben, Pinnasberg muß bleiben.“ Während sich die Bereitschaftspolizei auf eine lange Nacht vorbereitete, trat kurz vor taz-Redaktionschluß der Kirchensvorstand zusammen. Einziges Thema der Sondersitzung: Einstweilige Verfügung und Klage gegen den Pinnasberg-Abriß. Kai von Appen

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