piwik no script img

Jelzin will Industrie ans Volk übergeben

■ Der russische Präsident kündigt zum Putsch-Jahrestag Privatisierung der Staatswirtschaft über Anteilsscheine an/ Energie-, Verkehrs- und Rüstungsbetriebe sollen aber ausgenommen bleiben

Moskau (taz/dpa) — Die seit Jahren in der ehemaligen Sowjetunion als unumgänglich erkannte Privatisierung der Staatswirtschaft soll nun zumindest in Rußland realisiert werden. Pünktlich zum Putsch-Jahrestag verkündete der russische Präsident Boris Jelzin, die riesigen Staatsbetriebe der Industriesektoren in private Hände zu überführen. Alle russischen BürgerInnen sollen dabei einen Anteilsschein an den Staatsbetrieben im Wert von 10.000 Rubel (etwa 100 Mark) erhalten, versprach Jelzin am Mittwoch abend der Bevölkerung in einer direkt ausgestrahlten Rede an die Nation. „Rußland hat nicht nur eine große Vergangenheit, sondern auch eine Zukunft. Wir werden Rußland neu beleben“, so Jelzin.

Seit einem Jahr hatte die russische Regierung konkrete Privatisierungspläne für die hochverschuldeten Industriegiganten immer wieder hinausgeschoben. Nun wollen Jelzin und sein Kabinett in einem ersten Schritt Industrievermögen im Wert von etwa 1,4 Billionen Rubel in die Hände der Bürger übergeben.

Von der Kampagne ausgeschlossen bleiben allerdings die meisten Energie-, Verkehrs- und Rüstungsbetriebe. Falls die Verteilung des betrieblichen Volksvermögens an die Bevölkerung erfolgreich sein sollte, will die Regierung 1994 zusätzliche Anteilsscheine ausgeben. „Der Privatisierungsscheck ist sozusagen eine Fahrkarte eines jeden von uns in die freie Wirtschaft“, verkündete Jelzin optimistisch, „wir brauchen Millionen Eigentümer und nicht ein Häufchen von Millionären.“

Ob der propagandistische Coup aber klappt, daran sind nach den jüngsten Wirtschaftszahlen ernste Zweifel angebracht. Die Wirtschaft befindet sich in den Händen von Monopolbetrieben, die den Markt kontrollieren, aber zumeist völlig unrentabel sind. So zeichnete nicht nur die Weltbank Anfang August ein düsteres Bild über die Lage der russischen Schlüsselbranchen: Die Industrieproduktion schrumpfte im letzten Jahr um 8, im laufenden Jahr um rund 14 Prozent. Vor allem der Energiesektor, Hauptlieferant der dringend benötigten Devisen, hat Probleme: Die Rohöl- und Kohleproduktion ging drastisch zurück. Das Verkehrswesen liegt darnieder und ist dringend erneuerungsbedürftig; Die Agrarproduktion dürfte um 10 Prozent gesunken sein. Das größte Problem für die Bevölkerung wird aber die Inflation sein, die derzeit bei 20 Prozent im Monat liegt.

Für das vor dem Zusammenbruch stehende Gesundheits- und Sozialwesen hat Jelzin sich ebenfalls zu Maßnahmen durchgerungen, die die Versorgungsqualität erhöhen sollen. Der Präsident kündigte an, daß vom 1. September dieses Jahres an in den sozialen Berufen eine Gehaltserhöhung um das 1,5fache vorgesehen sei. Dazu zählten Ärzte, Lehrer, Erzieher und andere soziale Berufsgruppen. Außerdem solle ein einheitliches Tarifnetz geschaffen werden, um bisher gravierende Unterschiede beispielsweise zu Industrielöhnen auszugleichen. es

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen