: Jugendpolitik steht nicht mehr im Blickpunkt
■ Das einzige jugendpolitische Magazin Berlins wird im November eingestellt/ Der »Blickpunkt« war 40 Jahre lang nichtkommerzielles und unabhängiges Sprachrohr der Jugend/ Jugendsenator Thomas Krüger hat kein Geld mehr, denn »Ost-Projekte haben Priorität«
»Es gibt genügend Unterhaltungslektüre. Gebraucht wird ein Blatt, das unbestechlich die Wahrheit sucht und sagt, den jungen Menschen die Probleme des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens zu ihren eigenen Lebensproblemen macht und zur Mitarbeit an der Lösung dieser Probleme aufruft«. Ernst Lange im Blickpunkt , 1951.
Heute gehört er seit 40 Jahren zur Berliner Presselandschaft — der Blickpunkt, das einzige jugendpolitische Magazin in Berlin. Mehr werden es auch nicht werden. Seit dieser Woche steht fest, daß alle Verhandlungen zur Rettung des Blattes gescheitert sind. Im November erscheint die letzte Ausgabe.
Nur ein Toter mehr auf dem Berliner Medienmarkt — und doch eine Betrachtung wert. Seit 1951 versuchte das Magazin des Landesjugendrings die Stadt aufzurütteln — in Hintergrundberichten, Reportagen, Kommentaren und Interviews. Aufrüstung der Bundesrepublik und der DDR in den Fünfzigern, Vietnam und Prager Frühling in den Sechzigern, Friedensbewegung in den Siebzigern. Kein Schulungsheft, sondern spannende Lektüre. Auch nach seinem 30. Geburtstag blieb der Blickpunkt frech — sehr zum Ärger der damaligen Jugendsenatorin Hanna-Renate Laurien. Daß das Blatt sie 1982 in Nonnenkleidung mit einem Prügel in der Hand abbildete, kostete schon 1.000 Abos der Verwaltung; die Karikatur Ronald Reagans auf einer Peepshow-Drehscheibe mit einer erigierten Rakete trieb Laurien bis nach Bonn. Ob man nicht die Förderung durch den Bundesjugendplan noch einmal überdenken könne, fragte sie dort an. Doch der Blickpunkt existierte weiter.
Seit dem Mauerfall diskutiert das Blatt das Zusammenwachsen der beiden Stadthälften in den Bereichen Jugend und Schule, Kultur und Politik — und auch immer wieder Gewalt und Rechtsextremismus. Bereits im Januar 1990 brachte der Blickpunkt eine Analyse des Neonazismus in der DDR. Zwei Bände über Wehrpflicht und Jugendgangs waren lange vergriffen. Interviews mit Hausbesetzern, Neonazis, Sozialarbeitern, Polizeipräsidenten und Politikern fehlten ebensowenig wie Reportagen von der deutsch-polnischen Grenze und aus Jugoslawien. Blickpunkt- Autoren waren vor Ort — sehr zur Freude der Kollegen in großen Verlagen, die sich nur selten scheuen, abzuschreiben.
Im Mai trumpfte das Blatt mit einem »definitiven Konzept 2000« für die Olympischen Spiele auf: ohne Olympisches Dorf und Rekordjagd. Sportler sollten bei Berlinern wohnen; der Einhundert-Meter-Lauf Unter den Linden starten, Turner in der Hasenheide ihre Salti schlagen. Öffentliche Verkehrsmittel sollten Vorfahrt haben; die Botschaften der einzelnen Länder landestypische Verkehrsmittel zur Verfügung stellen. In einem Interview sicherte sogar ein venezianischer Gondoliere zu, mit der Gondel zu kommen.
414 Blickpunkt-Ausgaben sind bisher erschienen; zuletzt waren es sechs pro Jahr. Seit 1987 hat Sabine Pahlke die einzige Redaktionsstelle inne. Sie koordinierte ein ganzes Heer von freien Autoren, die ihr Geld woanders verdienten (mußten) und aus Idealismus mitarbeiteten.
Der Mauerfall hat dem Blatt das Genick gebrochen. Der Sonderplan Berlin im Bundesjugendplan wird nach und nach abgebaut. Statt bisher 300.000 Mark im Jahr will Jugendsenator Thomas Krüger 1993 dem Blickpunkt nur noch 90.000 Mark zur Verfügung stellen. Mit einer »knallharten Priorität« werde er Ost- Projekte vorziehen, sagte Krüger zur taz. Außerdem habe ein Magazin nur indirekt eine Wirkung auf Jugendliche. Auch ein gemeinsames Projekt der LJR Berlin und Brandenburg war im Gespräch. Die Verhandlungen scheiterten am vergangenen Montag endgültig an unterschiedlichen Konzeptionen. Nach Ansicht der Brandenburger sollte der Blickpunkt nur zum Teil Magazin, zum anderen Teil Berichterstatter aus der Verbandsarbeit sein — für 180.000 Mark im Jahr. »Damit ist der Journalismus am Ende«, stellte Sabine Pahlke bei dem letzten Treffen mit Vertretern der Verbände klar. Bevor der Blickpunkt zum »Mitteilungsblatt« degeneriere, werde man ihn begraben, einigte sich auch die Redaktion. Ein Vertreter der Katholischen Jugend verwies auf Schriften wie die Hessische Jugend; zwölf- bis sechzehnseitige Verbandsblättchen. »Da kann man doch auch drei bis vier Seiten Magazin machen.« Die Autoren der Berichte über Hauptausschußsitzungen und Jugendhilferichtlinien sind Pfarrer, Professoren und Ministerialräte. Am Ende der mittelmäßig engagierten Verhandlungen der Landesjugendringe erregte sich nur noch die Redaktion über den gleichgültigen Umgang mit dem einzigen jugendpolitischen Magazin weit und breit: »Ist die politische Debatte zu Ende, und wir benehmen uns wie eine Waschmittelfirma?« Jeannette Goddar
Das vorletzte Heft mit dem Schwerpunkt Drogen erscheint am kommenden Donnerstag.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen