: Nach Jelzins Absage seines Tokio-Besuchs
■ Japanischer Zündstoff vom Kreml-Tisch * Aus Rücksicht auf das delikate Gefüge im Innern seiner Administration hat Rußlands erster Mann die Hoffnung auf Yen-Investitionen zurückgestellt.
Japanischer Zündstoff vom Kreml-Tisch Aus Rücksicht auf das delikate Gefüge im Innern seiner Administration hat Rußlands erster Mann die Hoffnung auf Yen-Investitionen zurückgestellt.
Jelzin bleibt in Moskau... und Hokkaido bleibt auf ewig russisch“, stürmte der Redner auf einem der vorangegangenen Volksdeputiertenkongresse. Der Parlamentarier hatte soeben verbal die größte Insel des nördlichen Japan annektiert. Eigentlich wollte er nicht erobern, sondern nur das behalten, was die UdSSR in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges den Japanern entrissen hatten: die vier Kurileninseln, Iturup, Kunaschari, Shikotan und Habomai. Imperiale Absichten kann man dem Deputierten also nicht unterstellen. Er war lediglich einer der vielen Wintersportler, die die olympischen Winterspiele 1972 in Sapporo, der Hauptstadt von Hokkaido, mit Begeisterung verfolgt hatten. So war die Insel in seinem Gedächtnis hängengeblieben. Daß sie nicht zu den Kurilen gehört, hatte er offenbar gar nicht registriert.
Auf dieser Ebene bewegt sich die ganze Diskussion um die russischen Territorien der Kurilen. Sie ist hochemotional besetzt und verharrt ausschließlich im Symbolhaften. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR, wodurch das Selbstbewußtsein der Großrussen — die ihr überdimensioniertes Reich immer gleich Rußland setzten — stark angeknackst wurde, gilt Jelzins Absicht, mit den Japanern über eine eventuelle Rückgabe der Inseln zu verhandeln, schon als Hochverrat. Verzichtspolitik wirft man ihm vor, den Ausverkauf der heiligen Erde Rußlands.
Jelzins Entscheidung, den Japanbesuch abzusagen, kam nicht überraschend. Man hatte schon lange damit gerechnet, und es war die einzig richtige Reaktion. Von rechts wie links wurde dieses Thema instrumentalisiert, um den Präsidenten unter Druck zu setzen. So beruht seine Entscheidung nicht zuletzt auf den Unstimmigkeiten innerhalb der eigenen Administration. Ihr gehören nicht mehr nur liberale „Westler“ an, denen an einer möglichst schnellen Integration in den Westen und der Aufnahme in die Reihen der G-7-Staaten gelegen ist. Selbstverständlich auch an großzügigen japanischen Investitionen. Auch die Zentristen, Konservativen und Nationaldemokraten gewinnen mehr und mehr an Einfluß. Ihrem wachsenden Druck hatte Jelzin schon im Juli mit der Gründung des „Sicherheitsrates beim Präsidenten“ nachgegeben. Vordergründig kommt diesem Gremium nur beratende Funktion zu. Verfassungsrechtlich besitzt es überhaupt keine Legitimation.
Ein Kuhhandel kann nur stören...
Dennoch übt es Macht auf den Präsidenten aus, wie sich am Mittwoch abend zeigte. Während der Ratssitzung fiel die Entscheidung: Jelzin fährt nicht nach Tokio. Mit dazu beigetragen haben außer dem Wirtschaftsreformer Gaidar vornehmlich Vertreter der alten Nomenklatura und des militärisch-industriellen Komplexes. Ihnen geht es um Macht- und Besitzstandswahrung. Wenn schon Reformen, dann wollen sie dabei nicht zu kurz kommen. Bislang hatte Jelzin ohnehin beide Augen zugedrückt, wenn unter dem Deckmantel der Privatisierung sich sein Apparat großzügig versorgt hatte.
Um den aggressiven Nationalpatrioten, die für die Wiedererrichtung der Sowjetunion kämpfen, den Wind aus den Segeln zu nehmen, hatte er sogar die Afghanistan-Veteranen und Kriegstreiber Boris Gromow und Pawel Gratschow ins Verteidigungsministerium berufen. Eine Strategie, die nicht ohne Logik ist. Denn es gilt, die gemäßigten Nationaldemokraten und Zentristen in eine Koalition mit dem Präsidenten und den spärlichen Liberalen einzubinden. Zumal die demokratische Bewegung zerfallen ist und dem Präsidenten weder Massenbasis noch administrativen Rückhalt bieten kann. Die Nomenklatura und ihre nationaldemokratische Fraktion verfügt hingegen über keine zugkräftige Frontfigur. Ihnen geht es nicht um den Sturz Jelzins. Im Gegenteil. Sie wollen den Präsidenten für sich gewinnen und halten ihm die Nationalpatrioten vom Leib, indem sie eine gemäßigte Politik der nationalen Besinnung proklamieren. Ein Kuhhandel um die „erkämpften“ japanischen Gebiete kann hier nur stören. Außerdem lehnen nach einer Umfrage 60 Prozent der Russen den Verkauf der Inseln ab.
Mit Sicherheit hätte ein Nachgeben Jelzins in Tokio auch auf dem für Ende September geplanten Volksdeputiertenkongreß zu Turbulenzen geführt. Der ist noch immer von einer kommunistischen Mehrheit beherrscht. Jetzt ist der japanische Zündstoff erst einmal vom Tisch. Für sein Zugeständnis werden die alten Kader den Präsidenten vor neuen Attacken schützen. Der hofft auf eine Verlängerung seiner weitreichenden Präsidialvollmachten, die im Dezember auslaufen und nur durch den Volksdeputiertenkongreß erneuert werden können.
Die Mehrheit der Bevölkerung auf den Kurilen hat mittlerweile nichts mehr gegen die Japaner einzuwenden, die ihnen großzügige Geschenke versprochen haben. Ganz anders denkt der Gouverneur des Kurilenbezirks Sachalinsk. Fjodorow wehrt sich mit Händen und Füßen dagegen, die Bevölkerung selbst in einem Referendum darüber befinden zu lassen. Die ultrareaktionäre Sammlungsbewegung „Russkij Sobor“ dankte es ihm mit der Ernennung zu ihrem Vorsitzenden in Abwesenheit. Das war ihm dann doch zuviel. In eine faschistische Ecke wollte er sich nicht drängen lassen. Schließlich geht es um Heimat... Kaum einer der Insulaner wohnt hier seit mehr als zehn Jahren. Auch Fjodorow ist ein Moskauimport. Die Russen müssen sich beeilen, sonst verlieren die Japaner den Appetit. Klaus-Helge Donath, Moskau
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen