: Eigener Staat auf tönernen Füßen
■ Irakisch-Kurdistan regiert jetzt sich selbst, doch die Zukunft ist düster
Mit heulenden Sirenen und quietschenden Bremsen kommen vier Toyota-Pickups zum Stehen. Von den Ladeflächen springen Männer in irakischen Armeeuniformen, Kalaschnikows im Anschlag. Die Tür eines der Wagen öffnet sich, heraus steigt ein großer Mann um die 50 in kurdischer Kleidung und mit Ansatz zum Schmerbauch.
Dr. Resch Shawais, irakischer Kurde mit deutscher Staatsangehörigkeit, besucht das Büro des Military Coordination Center, Vertretung der Golfkriegsalliierten in Zakho. Die vermeintlichen irakischen Soldaten in seiner Begleitung sind kurdische Peschmerga, die Uniformen und Waffen erbeuteten sie während des Aufstandes vom Frühjahr 1991.
Dr. Resch ist Innenminister eines Staates, den es eigentlich nicht gibt. Seit einigen Wochen ist er einer der 16 Regierungsmitglieder Irakisch-Kurdistans, bestimmt nach den ersten freien Wahlen zu einem kurdischen Parlament im Mai. Die Verteilung der Ämter erfolgte streng nach Parteienproporz. Die „Demokratische Partei“ (KDP) Massoud Barsanis und die „Patriotische Union“ (PUK) Dschalal Talabanis stellen je sechs Minister. Die „Toilers Party“ — kurdische Abteilung der irakischen Kommunisten — und die „Demokratische Bewegung der Assyrer“ bekamen je einen Ministerposten, ein weiterer Kabinettssessel wird von einbem Unabhängigen besetzt. Den Premierminister stellt die PUK, den Innenminister die KDP; jeder hat einen Stellvertreter aus einer anderen Partei. Um das fragile Gleichgewicht zwischen Barsanis und Talabanis Formationen nicht zu gefährden, blieb das Amt des Staatspräsidenten bisher unbesetzt.
Trotz eigener Regierung, Parlament und den inzwischen dem Kabinett unterstellten bewaffneten Peschmerga als eigener Armee erklären die Politiker Irakisch-Kurdistan nicht zum eigenen Staat. Zwar steht an der Grenze zur Türkei ein Transparent mit der Aufschrift „Willkommen in Kurdistan“, aber eine kurdische Fahne sucht man vergeblich. DIe uniformierte Leibgarde der Minister trägt das irakische Staatswappen an den Baretten.
Denn die unter dem Schutz der in der Türkei stationierten Golfkriegsalliierten lebenden Kurden des Irak fürchten den Entzug dieser lebenswichtigen Rückendeckung. Mehrmals täglich kreisen über dem Nordirak US-amerikanische, britische und französische Kampfflugzeuge. Sie sollen Saddam Hussein abschrecken. Die Alliierten und mit ihnen die UNO haben jedoch die Unveränderlichkeit der irakischen Grenze zur Prämisse dieser Unterstützung erklärt.
Die irakisch-kurdischen Politiker sprechen daher nicht von einem unabhängigen Staat, sondern von einer „irakisch-kurdischen Föderation“. Das wird allerdings von der Zentralregierung in Bagdad nicht akzeptiert. Da inzwischen alle in der regierenden „Kurdistan-Front“ vertretenen Parteien Verhandlungen mit Bagdad ablehnen, solange Saddam Hussein an der Macht ist, bleibt Irakisch-Kurdistan de facto vom Irak abgetrennt.
Dem Premierminister Dr. Fuad Massoud (PUK), ein Mann im grauen Seidenanzug und mit drei Telefonen auf dem Schreibtisch, schwebt ein irakischer Bundesstaat vor, „ein föderatives System wie in der Bundesrepublik Deutschland oder in der Schweiz“. Er räumt aber ein, daß die irakischen Kurden „jetzt mehr haben als eine Föderation mit dem Irak“. De facto regiert er einen eigenen Staat. Die Alliierten scheinen dies zu akzeptieren. Seit einer mehrwöchigen USA- und Europareise Barsanis und Talabanis gehen hochrangige KDP-Politiker fest davon aus, daß UNO und USA die Schutzzone im Nordirak vom 36. auf den 34. Breitengrad ausweiten werden.
Bagdad versucht, die fortschreitende Sezession mit allen Mitteln zu verhindern. Die irakische Regierung hat über Kurdistan eine Wirtschaftsblockade verhängt, und seit einigen Wochen führen irakische Geheimdienstler gegen Kurdistan Krieg. Immer wieder explodieren Bomben, es kommt zu provozierten Schießereien. Vorrangiges Ziel: die in Irakisch-Kurdistan tätigen Ausländer. In Dohuk wurde ein UNO-Beamter ermordet, in anderen Städten erfolgten Angriffe auf offener Straße. In der Nähe von Accra wurde das Auto einer deutschen Hilfsorganisation von Kugeln durchsiebt, ein kurdischer Peschmerga kam dabei ums Leben. In der Nacht zum 12. September wurde die Fassade des „Babylon-Hotels“ in Dohuk, bevorzugtes Quartier von Ausländern, durch eine Autobombe zerstört; vier Tage später explodierte auf der Toilette des „Ashur-Hotels“ in Zakho ein Sprengsatz. Bisher wurde aber noch kein im Nordirak tätiger ausländischer Hilfsarbeiter getötet.
Auch ohne diese Angriffe ist die Lage in Kurdistan alles andere als stabil. Die Region hat zwar eine unabhängige Verwaltung, aber keine eigene Wirtschaft. Sie ist auf Gedeih und Verderb auf Hilfslieferungen aus der Türkei, in geringerem Umfang auch aus dem Iran angewiesen. Viele Kurden haben keine Arbeit und können sich kaum Grundnahrungsmittel leisten — und spätestens in zwei Monaten bricht der Winter herein.
„Die Menschen werden zu Tausenden aus den Bergen in die Städte kommen, wo sie keinen Platz haben“, fürchtet Dr. Sabah im Krankenhaus von Diyana, nahe der Grenze zum Iran. Hauptproblem sei der Mangel an Brennstoff. Fast die gesamten Ölquellen Kurdistans liegen in den von Bagdad kontrollierten Gebieten. Diesel und Benzin kommen daher nur in kleinen Mengen in die Region und sind um das Zehnfache verteuert. Dr. Sabah befürchtet massive Abholzungen zur Brennholzgewinnung im kommenden Winter: „Unter den ökologischen Folgeschäden werden wir dann die nächsten Jahre zu leiden haben.“ Thomas Dreger
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