: „Kriminell, wie man es kaum beschreiben kann“
Das Bezirksgericht Potsdam verurteilt vier Jugendliche/ Sechseinhalb Jahre Jugendstrafe für den Hauptangeklagten/ Bisher höchstes Strafmaß für ein ausländerfeindlich motiviertes Verbrechen in den neuen Ländern ■ Aus Potsdam Bascha Mika
Deutsches Blut ist geflossen. Das muß gerächt werden! Sie rotten sich zusammen, steigen in ihre Autos, rasen im Konvoi in die Salvador-Allende-Straße. Dort wohnen Lehrlinge aus Namibia, die seit 1989 im Reichsbahn-Ausbesserungswerk von Wittenberge eine Ausbildung machen. Einer von ihnen hatte sich an diesem Abend zur Wehr gesetzt, als er vor der Disco „KdE“ von deutschen Männern angegriffen wurde. Er verletzte drei von ihnen mit einem Messer. Jetzt dürsten die Jungmannen nach Vergeltung.
30 bis 40 schlagen die Haustür des Neubaublocks in der Allende-Straße ein, toben durchs Treppenhaus, brechen die Wohnungen der Schwarzen auf, bedrohen sie mit Messern und Gaspistolen. Einer der weißen Mieter gibt ihnen einen Tip: „Da oben im 4. Stock wohnen noch welche. Mir paßt das auch nicht.“ Im vierten Stock haben sich fünf der jungen Namibier eingeschlossen. Die Tür wird eingetreten, rund 20 Wittenberger stürmen ins Zimmer, drängen sie in die Ecke, dann auf den zwei Quadratmeter großen Balkon. Drei Schwarze schaffen es, sich mit einer Wäscheleine in den dritten Stock abzuseilen. Lucas Nghidiniwa stürzt über die Brüstung. 13 Meter tiefer schlägt er auf einem Eisengitter auf. Er fällt ins Koma. Jona Ipinge wird über das Geländer gestoßen, knallt auf einen Betonweg. Oberschenkel, Hüfte und Knie werden zertrümmert. — Das war im Mai 1991.
Heute sitzen sie sich im Abstand von drei Metern gegenüber: die Opfer und die Täter. Lucas Nghidiniwa und Jona Ipinge, die wie durch ein Wunder den Sturz überlebt haben, und vier ihrer Angreifer. Im Potsdamer Bezirksgericht trennt sie nur die Stuhlreihe der VerteidigerInnen. Jung sind die sechs Männer, alle zwischen 18 und 21. Sie schauen sich nicht an. Heiko Gaede, Guido Gathow, Sven Schröder und Remo Lehmann sind wegen versuchten Totschlags, Landfriedensbruchs in besonders schwerem Fall, Hausfriedensbruchs und weiteren Delikten angeklagt. Nghidiniwa und Ipinge treten als Nebenkläger auf.
Der Staatsanwalt plädiert. Umgangssprachlich, fast beiläufig, schildert er das „schändliche Ereignis“. Die Beschuldigten in dem winzigen, luftarmen Gerichtssaal, starren vor sich hin. „Es muß eine empfindliche Strafe ausgesprochen werden“, fordert Manfred Pormann. Der Angeklagte Gathow, hochrot im Gesicht, faltet die Hände.
Der Staatsanwalt fixiert dessen Banknachbarn Gaede. Gaede war von Jona Ipinge als derjenige identifiziert worden, der ihn in die Tiefe gestoßen hatte. „Ich gehe davon aus“, sagt Pormann, „daß Heiko Gaede der Täter des versuchten Totschlags ist.“ Er fordert siebeneinhalb Jahre Jugendstrafe. Für die anderen Angeklagten eine Jugendstrafe von vier Jahren und sechs Monaten, beziehungsweise drei Jahren und vier Monaten.
Wenn Jugendliche sich zusammenrotten und — von Fremdenhaß getrieben — aus einer Gruppe heraus Menschen angreifen, muß sich die Polizei schon anstrengen, um jemanden zur Verantwortung zu ziehen. Bei einem Überfall auf Ausländer ist sie nachweislich selten eifrig. Auch in der ostdeutschen Kleinstadt Wittenberge war sie es nicht. An jenem Maiabend wußte die Polizei, daß sich die Deutschen an den Namibiern rächen wollten. Sie unternahm nichts. Das war allerdings nicht nur ihre Schuld. Genau drei Beamte taten in jener Nacht Dienst. Sie waren „schlecht informiert und total überfordert“, wie es Almuth Berger, Ausländerbeauftragte von Brandenburg, nannte. Kein Wunder, daß der Angeklagte Gaede bei seinem Schlußwort behaupten kann: „Die Polizei hat mir an jenem Abend nicht das Gefühl gegeben, mich an einer Straftat zu beteiligen.“
Die Ermittlungen nach dem Verbrechen waren schlampig. Erst als das Verfahren vom Kreisgericht Perleberg zum Bezirksgericht Potsdam und dort in die Hände von Richter Hansel wanderte, kam Bewegung hinein. Der Kölner zeigte, wie man mit straffällig gewordenen Jugendlichen einerseits und unwilligen Zeugen andererseits umgehen kann, wenn man an einer Klärung interessiert ist. So verständnisvoll er gegenüber den Nebenklägern war, so hart nahm er die Zeugen ins Verhör.
In dem kleinen Saal in Potsdam plädieren die Nebenklägervertreter. „Die einzig spannende juristische Frage“, doziert Christoph Kliesing sinnend, „ist hier, ob es sich um versuchten Totschlag oder versuchten Mord handelt.“ Die „niederen Beweggründe“ seien bei den Angeklagten zweifellos gegeben. Sven Schröder scheint bei diesen Worten fast unter die Sünderbank zu kriechen. Völlig zusammengesackt hört er Kliesings Vorwürfe: daß keiner der Beschuldigten Reue gezeigt habe. „Früher hätten sie Juden gejagt, heute jagen sie Ausländer. In der DDR hätten sie wohl gekuscht und blaue Hemden getragen.“
Damit bringt Kliesing die VerteidigerInnen in Rage. „Die Verfehlungen“ der Angeklagten hätten nichts mit Ausländerhaß zu tun, ereifern sich alle vier und versuchen, das Verbrechen auf die Dimension einer normalen Schlägerei herunterzuhandeln. Die Anwältin von Gaede stellt die Glaubwürdigkeit von Jona Ipinge in Frage. Sie führt an: „Auch seine Todesangst hat der Geschädigte erst in der Verhandlung und nicht schon bei seinen Vernehmungen zum Ausdruck gebracht.“ Offenbar soll jemand dem jungen Schwarzen nur eingeredet haben, daß er auf den Balkon floh und von dort heruntergestürzt wurde. Und die zwölf Operationen, die er hinter sich hat, die Krücken in seinen Armen, die Metallschiene an seinem Bein?
Richter Hansel spricht sein Urteil. Der Überfall auf das Haus sei „in einem Maße kriminell, wie man es kaum beschreiben kann“. Es hätte „eine regelrechte Hetzjagd auf die Hausbewohner“ stattgefunden. Der Angeklagte Gaede ist für Hansel des versuchten Totschlags schuldig. „Ausländerfeindlichkeit“ als Motiv der Tat spiele allerdings nur „eine gewisse Rolle“. Stärker betont der Richter die grundsätzliche Gewaltbereitschaft bei Gaede. „Die beiden Namibier haben wie durch ein Wunder überlebt. Aber das ist nicht der mangelnden kriminellen Energie des Herrn Gaede zu verdanken.“
Er verurteilt den 20jährigen zu sechseinhalb Jahren Jugendstrafe. Für Guido Gathow — „Sie waren der Mann in der Speerspitze“ — verhängt er wegen schweren Landfriedensbruchs, schweren Hausfriedensbruchs und Beteiligung an einer Schlägerei drei Jahre und sechs Monate. Ebenso für Sven Schröder. Remo Lehmann wird zu zweieinhalb Jahren Jugendstrafe verurteilt.
Wolfgang Hansel hat das härteste Urteil bei ausländerfeindlichen „Übergriffen“ in den fünf neuen Ländern gesprochen, gezeigt, was der Rechtsstaat mit seinen normalen Mitteln vermag. — Wenn er denn will.
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