■ GASTKOMMENTAR: Thierses Nachholbedarf
Wolfgang Thierse ist ein kluger und wichtiger Interessenvertreter der ostdeutschen Menschen, den ich sehr schätze. Um so unverständlicher ist, daß Wolfgang Thierse nun selber in der Endlos-Serie „Mein Rat an die Tarifparteien“ auftritt. In dieser Soap-opera wird vor allem Lohnverzicht gepredigt, als ein Allheilmittel gegen den Niedergang der ostdeutschen Industrie. Als Hauptschuldiger sind die Gewerkschaften ausgemacht. Deren ureigenste Aufgabe ist es, Tarifverträge abzuschließen. In der speziellen Situation Ostdeutschland gilt es, die Interessen der Beschäftigten und der Arbeitslosen mit der wirtschaftlichen Situation zu verbinden. Diese Aufgabe ist den Gewerkschaften, bei aller Kritik, gelungen. Denn was im Moment in Ostdeutschland mit 70-75 Prozent der westdeutschen Löhne und Gehälter beziffert wird, sind bei genauerem Hinsehen, zum Beispiel in der sächsischen Metallindustrie, im Vergleich zu Bayern nur 52,1 Prozent. Längere Arbeitszeit, weniger Urlaub, weniger Lohnnebenleistungen, niedrigere Eingruppierung — all das macht die Differenz zwischen Ost und West aus.
Und während Politiker die sogenannten Tariföffnungsklauseln als Allheilmittel propagieren und sie als ihre Entdeckung preisen, praktizieren die Gewerkschaften — auch in sozialer Verantwortung — diese schon längst. In der Textil- und Bekleidungsindustrie Sachsen gibt es eine Klausel, wonach bedrohte Betriebe auf Antrag bei einer paritätischen Kommission das Lohnniveau von derzeit etwa 60% auf 50% senken können. Ähnliche Klauseln gibt es z.B. in der Druckindustrie.
Eine Untersuchung der IG Metall in Sachsen hat nachgewiesen, daß Betriebe mit hohem Beschäftigungsabbau auch tendenziell ein niedrigeres Eingruppierungsniveau aufweisen. Trotz der somit gewonnenen Einsparung der Lohnkosten findet Arbeitsplatzabbau statt. Die Studie zeigt weiterhin, daß Geschäftsleitungen häufig nicht von der Möglichkeit leistungsfördernder Entlohnungsformen Gebrauch machen.
Ein weiteres Absinken der Reallöhne ist kaum möglich. Das Leben in Ostdeutschland ist ein teures „Vergnügen“. Nicht bewiesen ist, daß Lohnverzicht Arbeit schafft. Arbeit müssen die Unternehmer schaffen. Diese sollte Wolfgang Thierse mahnen! Hanjo Lucassen, DGB-Landesbezirksvorsitzender Sachsen
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