: Geschichte überrascht
■ Europa nach 1989 macht Historiker ratlos
„Geschichte ist voller Überraschungen, und keiner wird davon mehr überrascht als die Historiker.“ So formulierte ein Teilnehmer einer Podiumsdiskussion zum Ende des 39. deutschen Historikertags in Hannover. An dem viertägigen ersten gesamtdeutsche Historikertag seit 1958, nahmen in insgesamt 50 Veranstaltungen ca. 3000 Wissenschaftler und Geschichtslehrer teil.
Der Bielefelder Historiker Hans- Ulrich Wehler und sein Essener Kollege Lutz Niethammer nannten die „weiche Ostpolitik“ der 70er Jahre den entscheidenden Faktor, der mit dem Abrücken von der Politik des harten Anti- Kommunismus und der Einbindung des Ostens in den KSZE- Prozeß eine allmähliche Öffnung der kommunistischen Staaten möglich gemacht hätten. Dagegen vertrat Manfred Hildermeier die Ansicht, daß der „Ölschock“ Anfang der 70er Jahre, die Überforderung durch den von den USA forcierten Rüstungswettlauf und der fehlgeschlagene Afghanistan-Feldzug der UdSSR die wichtigsten Gründe für die Wende gewesen seien.
Wenn der Zerfall des Ostblockes die Historiker auch überrascht hat — nützen tut er ihnen doch. Ein Gutes an den Revolutionen, so hat der Franzose Marc Bloch einmnal gesagt, daß Historiker danach an vorher unzugängliche Quellen herankommen.
Der erste gesamtdeutsche Historikertag seit 1958 war am Samstag mit einem Vortrag des scheidenden Vorsitzenden des Verbandes der Historiker Deutschlands, Wolfgang J. Mommsen, beendet worden. Von den ehemaligen Kolonien gingen „Kräfte der sozialen Bedrohung und der potentiellen Destabilisierung“ Europas aus, meinte Mommsen. Neben dem fundamentalistischen Islam sei es vor allem die „dumpfe Furcht vor einem zunehmendem Strom von Einwanderern aus der nicht-europäischen beziehungsweise nicht-westlichen Welt, die uns umtreibt“, sagte Mommsen.
Zum Nachfolger des 62jährigen Mommsen hatten die Historiker Lothar Gall gewählt. Der 55jährige Professor für Mittlere und Neuere Geschichte machte sich unter anderem mit der Biographie „Bismarck. Der weiße Revolutionär“.
dpa/Rudolf Grimm
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