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Wir brauchen vorerst keine Asyldebatte

[...] Wenn wir eine wehrhafte Demokratie sein wollen, müssen wir uns jetzt der um ihr Leben bangenden Ausländer/innen annehmen. Wir brauchen vorerst keine Asyldebatte, sondern sollten traurig, nachdenklich und entsetzt darüber sein, wie trotz (oder besser wegen?) Auschwitz dieser Grundgesetzartikel faktisch aufgehoben wird.

Unabhängig davon müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß Westeuropa Einwanderungsland ist, auch wenn dies von der CDU/CSU und Helmut Schmidt (SPD) geleugnet wird. Wir werden uns daran gewöhnen müssen abzugeben, die Mittel- und Osteuropäer werden längerfristig, vielleicht auch dauerhaft wirtschaftlich und sozial benachteiligt sein. Mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus ist auch bei uns alles in Bewegung geraten, auch unsere scheinbar festgefügten Besitzstände.

Die inhaltliche Kritik der Jugendlichen haben wir Eltern, Lehrer/innen, Arbeitgeber/innen, Gewerkschafter/innen und Politiker/ innen mit ihnen zu diskutieren, dürfen sie nicht ausgrenzen, sondern sollten ihnen Vertrauen entgegenbringen. Sie sind überwiegend keine Rassisten, sondern suchen, was sie oft im Elternhaus, in der Schule, am Arbeitsplatz und in ihrer Freizeit vermissen: Geborgenheit, Solidarität, Möglichkeiten der Selbstdarstellung und Selbstbehauptung.

Die Nazideutschen haben die Jugendlichen für ihre mörderische Ideologie mißbraucht und sie skrupellos in den Vernichtungskrieg geschickt. Passen wir gemeinsam auf, daß sich trotz der unzulänglichen Aufarbeitung der verbrecherischen deutschen Vergangenheit nicht ähnliches wiederholt. Die Verteidigung der Demokratie, des Rechts- und Sozialstaates ist nicht nur Aufgabe der Polizei, Justiz und Politik, sondern auch und gerade unsere Pflicht. Wenn wir diese Verteidigung delegieren, geben wir unsere eigene Verantwortung aus der Hand.

Wenn wir das mit ein wenig Zivilcourage geschafft haben, können und müssen wir darüber reden, wie wir auf die neue Völkerwanderung reagieren. Wolfgang Merten, Hamburg

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