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Ansichten eines Malers

■ Fast ein Schelmenroman: Luigi Malerbas „Die fliegenden Steine“

Nun ist es soweit. Die ersten Romane erscheinen, die um die Jahrtausendwende spielen, als einem faßbaren Zeitraum — ohne utopische Einsprengsel, ohne Science-fiction- Anleihen. In der italienischen Gegenwartsliteratur hat der junge Autor Marco Lodoli mit seinem im Jahr 1986 erschienenen Roman „Tagebuch eines fliehenden Jahrhunderts“ („Diario di un millennio che fugge“) damit begonnen, das Jahr 2000 als realistische Erzählzeit einzusetzen. Nun folgt Luigi Malerba, der italienische Meister der Ironie und Fabulierkunst.

Er erzählt die Geschichte eines Malers, der sich in ein Schweizer Luxushotel begibt, um in anonymer Einsamkeit der Jahrtausendwende zu harren. Dort läßt er sein Leben Revue passieren, das Leben eines erfolgreichen Malers, eines vom Vaterbild verfolgten Sohnes und verklemmten Liebhabers.

Ovidio Romer ist kein Genie. En passant streift er die italienische Geschichte, die philosophischen Konzepte und künstlerischen Stilrichtungen dieses Jahrhunderts, geführt von der Leichtigkeit des versierten Romanciers Malerba und der guten deutschen Übersetzung von Moshe Kahn. Den Anforderungen des Alltags begegnet er unsicher und ungeschickt; wiewohl seine Bilder in Museen und Privatsammlungen in der ganzen Welt verstreut sind, hat er nichts Weltmännisches an sich, sondern bewegt sich schüchtern und komplexbeladen durchs Leben. Er ist ein durchaus sympathischer Protagonist, seine Gedankengänge sind zwischen Schopenhauer und Chaostheorie anzusiedeln, seine Reisen und Abenteuer bestätigen die völlig undurchschaubare Logik des Daseins, die seine Weltsicht prägt.

Luigi Malerba hat wieder einmal eine Figur entworfen, die nicht ganz so klug ist wie ihr Autor, mit der er spielen kann, obwohl er sie nie kommentiert, einen eitlen, versponnenen, arroganten Ich-Erzähler, der genügend Selbstironie besitzt, um nie lächerlich zu werden. Malerba ist ein zu intelligenter Autor, als daß sein Ovidio Gefahr liefe, zur Karikatur zu verkommen. Selbst als eine Liebesbeziehung daran scheitert, daß die elegante moslemische Auserwählte lange Fingernägel behalten will und ihm damit bei jedem Liebesakt den Rücken blutig kratzt, lachen wir über die menschlichen Schwächen, und nicht über den trotteligen Maler.

Wir erfahren aus der doppelten Distanz — der Zeit (das Jahr 2000) und des Ortes (der Schweiz) — seine Familiengeschichte. Deren heikelster Punkt ist der abwesende Vater, der Verschollene, Geheimnisvolle. Ovidios (und Malerbas) Hauptmotiv klingt an: Fakten und Gerüchte vermischen sich ineinander, das Wahre und das Falsche sind nicht voneinander zu trennen. Lange Zeit glaubt Ovidio, daß sich der Vater selbstmörderisch in Ägypten den Krokodilen am Nil hingegeben hätte, doch schließlich stellt sich heraus, daß er seine Frau betrog, sein Mailänder Bauunternehmen in den Bankrott führte und in Kanada mit einer neugegründeten Familie untertauchte bis zu seinem Tod. Was bleibt, ist ein Halbbruder, ein Abbild des Vaters. Im Kopf des Künstlers wird der Vater zur Legende, zur Obsession.

Falsche Namen, falsche Identitäten durchziehen die Geschichte. So wirkt es denn auch nur stimmig, daß der Maler auch an einem unechten Ort wohnt, in einem nachgebauten mittelalterlichen Schloß in Umbrien, zuletzt im Leeren, der eigenen Möbel beraubt. Keine Spuren, keine Melancholie. Und doch liegt sie weit entfernt, die ersehnte Daseinsform in der totalen Fiktion. Es ist ein Abenteuer- und fast ein Schelmenroman, der die Gelegenheit des Themas, den Kunstbetrieb zum x-ten Male auf den Arm zu nehmen, Gott sei Dank nahezu ungenützt vorübergehen läßt.

Für seine Bilder bevorzugt Ovidio Romer leblose Gegenstände, phantastische Steine und Insekten, verstaubte Grabungsfunde. Unter archäologischen Fundstücken wird schließlich die Lust auf die Leinwand gebannt — Kunst statt Liebessehnsucht, wie es sich für einen ordentlichen Maler gehört. Die „fliegenden Steine“ sind „vielleicht das beunruhigendste Bild, das ich je gemalt habe“. Beunruhigend, aber sehr vergnüglich ist auch sie, die Lebensgeschichte samt Zeitbeobachtungen des neuesten Querdenkers von Malerba. Margit Knapp Cazzola

Luigi Malerba: „Die fliegenden Steine“. Roman. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. Wagenbach Verlag 1992, 240 Seiten, 36 DM.

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