: „Bestraft nach gesundem Volksempfinden“
Am 27. Oktober 1942 wurde Helmuth Hübener hingerichtet. Der Siebzehnjährige war das jüngste Opfer des Volksgerichtshofs. Das Gericht stellte ihn „einer über 18 Jahre alten Person“ gleich und verurteilte ihn zum Tode ■ Von Julia Albrecht
„Der Verurteilte gab keine Äußerung von sich. Er war ruhig und gefaßt. Er ließ sich ohne Widerstreben vor das Fallbeilgerät führen und dort mit entblößtem Oberkörper niederlegen. Der Scharfrichter trennte sodann mittels Fallbeils den Kopf des Verurteilten vom Rumpfe und meldete, daß das Urteil vollstreckt sei.“ (Aus einem Vermerk des Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof, Berlin, den 27. Oktober 1942)
Vor fünfzig Jahren wurde Helmuth Hübener in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Wo sich sein Grab befindet, ob es überhaupt eines gibt, ist nicht bekannt. Der 17jährige war das jüngste Opfer des Volksgerichtshofs.
Helmuth Hübener hatte für seine Verurteilung nicht viel tun müssen. Sein Bruder hatte ihm im März 1941 ein Rundfunkgerät Marke „Rola“ aus Frankreich mitgebracht. „Beim Einspielen des Geräts stieß ich auf den englischen Nachrichtendienst. In der nun folgenden Zeit habe ich bis zu meiner Festnahme diesen Nachrichtendienst wöchentlich etwa vier- bis fünfmal abgehört.“ (Aus dem Vernehmungsprotokoll vom 9.2.1942) Die englischen Nachrichten wichen diametral von den deutschen Propagandareden und Wehrmachtsberichten ab. Hübener begann das Gehörte mitzuschreiben und zu Flugblättern zu verarbeiten. „Ich war unzufrieden mit den Nachrichten, die der deutsche Rundfunk bekanntgab, und wollte Nachrichten, die der englische Nachrichtendienst brachte und die ich zum Teil für Wahrheit hielt, auch anderen Leuten zukommen lassen, damit sie auch von diesen Meldungen etwas zu wissen bekommen.“ (Aus dem Vernehmungsprotokoll vom 17.2.1942) Er bediente sich dabei einer alten Schreibmaschine und Durchschriftpapier. Die Schreiben verbreitete er in Briefkästen und Telefonzellen in den Hamburger Stadtteilen Hammerbrook und Rothenburgsort. Zunächst alleine, später mit Freunden, dem Schlosserlehrling Gustav Wobbe, dem Malergesellen Karl Heinz Schnibbe und dem Verwaltungslehrling Gerhard Heinrich Jacob Jonni Düwer, die ebenfalls vom Volksgerichtshof, allerdings nur zu zeitlich befristeten Strafen, verurteilt wurden.
Die ersten Schriften sind kurze Handzettel:
„Nieder mit Hitler
Volksverführer
Volksverderber Volksverräter
Nieder mit Hitler“
Später werden die Schriften immer länger. Analysierend beziehen sie sich auf die Reden von Hitler oder Goebbels. „Der Führer hat gesprochen, und wirklich, er hat eine große Rede gesprochen. Denn sage und schreibe mehr als zwei Stunden dauerte dieses Gemisch von Phrasen ... dennoch vermochte Hitler keine Antwort auf die Fragen zu geben, die augenblicklich jeden bewegen. Warum werden die deutschen und verbündeten Truppen an der Ostfront jetzt Tag für Tag unter schwersten Verlusten aus den bisherigen Stellungen gedrängt, warum läßt sich die angeblich überlegene Luftwaffe jetzt schon seit mehreren Monaten nicht mehr in größeren Angriffen über England sehen, warum sinken von Tag zu Tag die Versenkungsziffern des deutschen OKW-Berichts [Oberstes Kommando der Wehrmacht] in der ,Schlacht um den Atlantik‘, obleich Hitler diese schon gewonnen glaubt. Warum? ...“
Andere Flugschriften nehmen sich immer wieder die Kriegsberichterstattung vor. „Kamerad im Norden, Süden, Osten, Westen. Freunde in der Heimat“ oder „Militärische Monatsübersicht Dezember-Januar“ tituliert er seine Analysen. Dann blendet er die deutsche Berichterstattung ein und setzt ihr entweder die englischen Meldungen entgegen oder stellt die widersprüchlichen deutschen Meldungen selbst nebeneinander. „3. Oktober–3. Februar! Vier Monate sind es her ... seit der Führer großspurig verkündete: Der Feldzug im Osten ist bereits entschieden! Er hat weit gefehlt, denn obleich er noch soviel von den ,überaus großen‘ bolschewistischen Verlusten ... sehen wollte, hat er sich dennoch verrechnet ... Es ist schon ein schweres Stück Arbeit für Goebbels und seine Nazi- Propagandisten, diese Tatsache zu bemänteln und den Anspruch Hitlers als nie gesagt hinzustellen ...“ Hübeners letzte Schrift „Wer hetzt wen?“ blieb unvollendet. Die Gestapo fand sie in der Schreibmaschine, als man nach Hübeners Festnahme eine Hausdurchsuchung durchführte.
Helmuth Hübener hatte das laut Nazi- Gesetzgebung für die Todesstrafe erforderliche Alter von 18 Jahren noch nicht erreicht. Dennoch hatte sich der zweite Senat des Volksgerichtshofs unter dem Vorsitz seines Vizepräsidenten Karl Engert am 11. August 1942 für das Todesurteil entschieden. Dies war nach der Gesetzeslage nur möglich, sofern Hübener gemäß Paragraph 1 der „Verordnung gegen jugendliche Schwerverbrecher“ einer „nach seiner geistigen und sittlichen Entwicklung über 18 Jahre alten Person“ gleichgestellt wurde. Das tat der Senat: „Hübener hat in der Hauptverhandlung einen weit über dem Durchschnitt von Jungen seines Alters stehende Intelligenz gezeigt.“ Das beweise auch „der Inhalt der Flugschriften, die von Hübener in Anlehnung an die Nachrichten verfaßt worden sind. Auch hier würde niemand, selbst wenn er wüßte, daß ihr Inhalt nach Aufzeichnungen verfaßt worden ist, vermuten, daß sie von einem erst 16- und 17jährigen Jungen verfaßt worden sind. Damit war der Angeklagte wie ein Erwachsener zu bestrafen.“ (Aus der Urteilsbegründung vom 11. August 1942)
Die Verordnung, die es ermöglichte, den jugendlichen Hübener wie einen Erwachsenen zu behandeln, zeigt beispielhaft die Verkehrung aller im Strafrecht geltenden Regeln während des Nationalsozialismus.
Die Anwendung von Strafrechtsnormen zum Nachteil des Angeklagten ist seit den Strafrechtsgesetzen Anfang des 19. Jahrhunderts untersagt. Am 28. Juni 1935 brachen die Nationalsozialisten mit diesem Grundsatz. In Paragraph 2 des Strafgesetzbuches wurde die Bestrafung nach „gesundem Volksempfinden“ etabliert. „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbare Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanken auf sie am besten zutrifft.“
Hübener war vom 2. Senat des Volksgerichtshofs, Bellevuestraße 15, Berlin-Tiergarten zum Tode verurteilt worden. Die Gnadengesuche seiner Anwälte und das Flehen seiner Mutter blieben erfolglos. Ich „bitte den Herrn Oberreichsanwalt beim Volksgericht um Gnade für meinen Sohn. Er ist doch noch so jung und will alles, alles wiedergutmachen, darum erhören Sie bitte doch eine schwergeprüfte Mutter.“
Auch ein Vertreter der Geheimen Staatspolizei macht sich für Hübener stark. „Hübener war zwar die Seele des Treibens dieser Gruppe, aber sein offenes Geständnis ... legt dafür Zeugnis ab, daß er trotz seiner schweren Straftat charakterlich noch unverdorben war. Wenn er sich auch nach seiner eigenen Angabe der Strafbarkeit seiner Handlungsweise durchaus bewußt war, so dürfte er aber in seinem jugendlichen Alter von 16 Jahren noch nicht so reif gewesen sein, um die Folgen seiner Tat bis ins Letzte zu erkennen. Ich befürworte also einen Gnadenerweis.“
Diese Stimmen riefen den Reichsminister der Justiz und vormaligen Präsidenten des Volksgerichtshofs, Georg Thierack, auf den Plan. In einem geheimen Schreiben an den Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof heißt es: „In der Strafsache gegen den ... zum Tode verurteilten Helmuth Hübener ... [ist] mit größter Beschleunigung das Weitere zu veranlassen. Die Vornahme der Hinrichtung ist dem Scharfrichter Röttger zu übertragen.“
Hübener war denunziert worden. Sein Denunziant und Vorgesetzter Heinrich Mohns hatte am 20. Januar 1942 Hübener dabei beobachtet, wie er versuchte, einem anderen Verwaltungslehrling ein Schriftstück zuzustecken, und berichtete dies prompt der Geheimen Staatspolizei in Hamburg. „Mir kam sofort der Gedanke, daß es sich unbedingt um eine verbotene Angelegenheit handeln müßte ...“ Am 12. Mai 1950 verurteilte das Schwurgericht in Hamburg den Denunzianten zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren. In der Revision hob der Bundesgerichtshof (BGH) dieses Urteil allerdings am 25. Juni 1953 wieder auf. Das Urteil des Hamburger Gerichts wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, also aufgrund alliierten Rechts nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 (KRG 10) sei ungültig. Mohns könne nur nach deutschem Strafrecht verurteilt werden, da die britische Militärregierung das KRG 10 unterdessen aufgehoben habe. Für den konkreten Fall hieß das, daß Mohns nur dann zu überführen war, wenn man ihm entweder Beihilfe zum Totschlag oder wenigstens Beihilfe an der Freiheitsberaubung Hübeners nachweisen konnte. Dem Hamburger Schwurgericht, an das der BGH die Sache zurückverwies, gab es zu bedenken: „Das Schwurgericht wird dabei auch zu prüfen haben, ob bei den gegebenen Umständen die Handlungsweise des Angeklagten auch dann rechtswidrig war, wenn er kraft Gesetzes zur Anzeige des Jugendlichen verpflichtet war ... “(Aus dem Urteil des BGH vom 25. Juni 1953)
In dieser Mahnung des Gerichts wird die Haltung, aber auch die Problematik deutlich, die bundesdeutsche Gerichte im Umgang mit nationalsozialistischen Verbrechen haben. Sollte es sich herausstellen, so der Gedanke des Gerichts, daß Mohns mit seiner Denunziation gemäß nationalsozialistischer Gesetze gehandelt hatte, dann wäre von einer Verurteilung abzusehen gewesen. Tatsächlich waren aber im Sinne nationalsozialistischer Rechtswirklichkeit derartige Handlungen nicht nur erwünscht, sondern geboten. Nicht nur die Denunziation, sondern auch der Mord an Abertausenden war recht, gedeckt durch Gesetze und Verordnungen oder den „Führerwillen“. Ganz im Sinne des Obersten Gerichts sprach das Hamburger Schwurgericht den Denunzianten am 29. Oktober 1953 frei.
Nach der Verkündung des Todesurteils erhielt Hübener das „letzte Wort“. Er sagte seinen Richtern ins Gesicht: „Ich muß jetzt sterben und habe kein Verbrechen begangen. Jetzt bin ich dran, aber Sie kommen auch noch dran.“ Hübener sollte nicht recht behalten. Der Vorsitzende Richter, Karl Engert, wurde zwar von den Alliierten in Nürnberg unter anderem wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ angeklagt. Das Verfahren wurde allerdings am 22. August 1947 wegen Erkrankung abgetrennt und nie wieder aufgenommen.
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