: Chaos bei den Staatsfinanzen
Die deutschen Rechnungshöfe verpaßten gestern Bund, Ländern und Gemeinden eine schallende finanzpolitische Ohrfeige/ Die Staatsfinanzen müßten schnell saniert werden ■ Aus Hamburg Florian Marten
„Die heutige Schuldenpolitik der öffentlichen Haushalte ist nicht mehr zu verantworten. Unsere Haushalte sind extrem gefährdet. Die Politiker lassen hier Entschlossenheit, Klarheit und Ehrlichkeit vermissen.“
Hermann Granzow, Chef des Hamburger Landesrechnungshofes und derzeit Vorsitzender der Konferenz der deutschen Rechnungshöfe, ließ gestern an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Die Konferenz der staatlichen Buchprüfer debattierte gestern nicht einfach über den Schwund von Bettlaken in kommunalen Wäschereien oder die unfertige Brücke der Kreisstraße 2.130.
Statt dessen ging es ums Eingemachte, die Grundlagen der Haushaltspolitik bei Bund, Ländern und Gemeinden. Mit einer einstimmigen, an Schärfe kaum noch zu überbietenden öffentlichen Erklärung mischten sich die Rechnungshofchefs in die deutsche Finanzpolitik ein. Der Hamburger Granzow gestand: „Wir haben nachgedacht, ob wir unsere Kompetenzen überschreiten, wenn wir diesmal unsere übliche Diskretion und Zurückhaltung aufgeben und in politischen Fragen politisch Stellung beziehen.“ Die Situation sei inzwischen allerdings derart ernst geworden, daß man über den eigenen Schatten springen müsse. Die Mannen klopften sich auf die Brust: „Wir wollten uns zu Wort melden als konzertierte Aktion des finanzpolitischen Gewissens der Bundesrepublik.“
Mit Zahlen belegten die beamteten Chefprüfer, daß die Finanzpolitik tatsächlich auf einen tiefen Abgrund zusteuert: Bis 1995 wird die Verschuldung im öffentlichen Sektor um rund eine Billion DM zunehmen. Die Zinslast dafür wird sich von heute 170 auf kaum vorstellbare 340 Milliarden Mark pro Jahr verdoppeln. Eine kleine Umrechnung öffnet die Augen für die Dimension des Schuldenmachens: Geschieht jetzt nichts, dann entfallen auf jede und jeden Berufstätigen in der Bundesrepublik schon 1995 pro Kopf und Jahr 5.000 Mark Zinszahlungen nur für die öffentlichen Schulden.
Diese Lawine wurde nicht, wie man vermuten könnte, erst durch die Einheit losgetreten, sie ist vor allem direkte Folge der seit Jahren üblichen Finanzpraxis: Öffentliche Schulden in mehrstelliger Milliardenhöhe werden in Schattenhaushalten versteckt (Bahn, Post, öffentliche Unternehmen, Treuhand), fast alle öffentlichen Investitionen völlig per Kredit bezahlt. Die Mathematik dieser Lawine ist ebenso schlicht wie umwerfend: Heute werden bundesweit die laufenden Ausgaben nur knapp durch laufende Einnahmen gedeckt, praktisch alle Investitionen per Kredit bezahlt, für die Begleichung von Zinsen und Tilgung aber wieder neue Kredite aufgenommen. Private Schuldner, die dieses Spiel treiben, enden nach wenigen Jahren im lebenslangen Bankrott, wie jede einschlägige Verbraucherzentrale zu berichten weiß.
Was tun? In den zehn Punkten ihrer „Hamburger Erklärung“ verlangen die Rechnungshofpräsidenten eine radikale Wende der Finanzpolitik: Eine rigide Sparpolitik, die liebgewonnene BRD-Standards absenkt, Massenentlassungen im öffentlichen Dienst Ostdeutschlands, Erfolgskontrollen für öffentliche Leistungen, drastische Gebührenerhöhungen, Privatisierung, eine völlig neue Form der Investitionsfinanzierung und endlich einen öffentlichen Ausweis der Schattenhaushalte. Die Herren gaben sich in Hamburg machtbewußt: Das Bild vom Rechnungsprüfer „als Ritter ohne Schwert ist nicht mehr zeitgemäß“.
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