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Untergang des Individuums

■ Don DeLillo stellte im Literaturhaus seinen neuen Roman Mao II vor

stellte im Literaturhaus

seinen neuen Roman Mao II vor

Irgendwann sitzt der von allen mit Spannung erwartete Autor auf dem Podium und keiner hat ihn kommen sehen. Wie immer im Literaturhaus gibt es Probleme mit den Mikrofonen, doch als Ursula Keller, Programmdirektorin des Hauses, das klassische Joycesche Credo „Schweigen, Exil und List“ vorbringt, kann sie jeder verstehen, weil damit das Ereignis dieses Abends angesprochen wird. Innerhalb der letzten Jahre sah sich der homme de lettres Don DeLillo zum literarischen Star befördert und hat sich umso mehr zurückgezogen - keine öffentlichen Lesungen, selten Interviews oder Fotos. Daß er sich doch ab und an seiner Leserschaft zeigt, würde er vermutlich damit begründen, daß er nicht zu einem Schriftsteller werden will, der, weil er „sein Gesicht nicht zeigt, zu einem irdischen Zeichen für Gottes berühmte Abwesenheit“ wird, wie man in seinem Roman nachlesen kann. Der Literaturkritiker Paul Ingendaay spricht eine kurze und informative Einführung in das Werk des Autors, dann liest Don DeLillo aus dem Prolog seines Romanes Mao II.

6500 Paare haben sich im New Yorker Yankee-Stadion zu einer Massenhochzeit der Mun-Sekte eingefunden. Eine mobile Kamera liefert aus allen Perspektiven Bilder vom Rausch des Kollektiven, der die Menschenmasse verbindet. Der Einzelne ist nur noch eine leicht abgewandelte Variation der immer gleichen Form, beliebig reproduzierbar, wie Warhols Mao-Bilder, die dem Roman den Titel gaben.

Andy Warhols serieller Ästhetik liegen Gesetze der Werbung und des Massenerfolges zugrunde, die zum Inbegriff jener sich stetig beschleunigenden technisch-ökonomischen Modernisierung geworden sind, von der die amerikanische Gesellschaft geprägt ist. Zwei Figuren, deren Verwandtschaft in der Isolation, in der Abscheu der Massen, in der Weigerung billiger Übereinkünfte liegt, stehen im Zentrum des Romanes: ein Schriftsteller und ein Terrorist. Bill Grey, der Schriftsteller, ist ein berühmter Kultautor, eine mythische Figur, er gibt keine Interviews, läßt sich nicht photographieren und hält seine Adresse geheim. Nicht schwer zu erraten, wer Vorbilder für die Romanfiguren gewesen sein könnten: J. D. Salinger, dessen rabiate Attacke gegen einen Fotografen vor wenigen Jahren durch die

1Weltpresse ging, und Thomas Pynchon, den seine Abwesenheit von Literaturbetrieb und Medien zu einem Mythos gemacht haben.

Die Meinungsmacher, die Nachrichtenmacher im ausgehenden 20. Jahrhundert, glaubt Bill Grey, sind nicht mehr die Schriftsteller. Dieses Terrain gehört den Terroristen. „Was die Terroristen gewinnen, verlieren die Schriftsteller“, heißt es in Mao II. „Das Ausmaß, in dem sie das Bewußtsein der Massen beeinflussen, ist das Ausmaß unseres Niedergangs als Gestalter von Empfindungen und Gedanken“. Die Figuren des Romanes, auch Bill Grey, geben vor, Individuen auf der Su-

1che nach einem Lebenssinn zu sein.

In diesem Roman wird ihnen diese Suche gründlich ausgetrieben, in Massenszenen via TV, auf Schrifttafeln, in essayistischen Dialogszenen, überbordenden Bildern medialer Wirklichkeiten, beschreibt DeLillo die Abhängigkeit des Einzelnen von der weltumspannenden medialen Blase. Am Ende stirbt der Schriftsteller auf dem Weg in den Libanon, wo er mit einer Terroristengruppe über die Freilassung einer Geisel verhandeln will, in völliger Anonymität. Seine Identität ist hinter der des Kultautors verschwunden. Der Untergang des Individuums gipfelt in der totalen Vi-

1sion einer weltumspannenden Familie, der der individuelle Glaube an das Wort verlorenging, gebannt vom Massenglauben an flüchtige Bilder.

Man kann diesen Roman auch als Essay über die chaotische Weltordnung am Ende des 20. Jahrhunderts lesen, eine Welt, für die DeLillo das Ende der Individualität und damit des Romanes verkündet. Ob er deshalb in Europa auf Lesereise ging? Die Lesung mit Don DeLillo im Literaturhaus war ausverkauft, und allein darin, mag man einwenden, postuliere sich eine Hoffnung für die hohe Kunst des Romans.

Jürgen Abel

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