: Bescheidung auf das Wesentliche
■ „Der Turm“ von Peter Weiss im Theater Forum Kreuzberg
Unsere Vergangenheit, wie fremd und aufgezwungen sie uns auch immer ankommen mag, bleibt unsere ureigene, individuelle Geschichte. Sich von seinen ganz privaten Voraussetzungen zu verabschieden bedeutet einen erbitterten Kampf der Abnabelung, der nicht von heute auf morgen vollziehbar ist, ohne neurotische Blessuren zu hinterlassen.
Pablo, einer der frühesten literarischen Erfindungen des sich erst viel später politisierenden Exilanten Peter Weiss, hat die Erfahrung gemacht, daß die besinnungslose Flucht aus der Zone der ersten Lebenskontamination nicht die ersehnte Freiheit und Unabhängigkeit bringen kann. Darum kehrt er im Schutze der Nacht an den Ort seiner Jugend, seiner ersten Gesellschaftsdressur, zurück: „Der Turm“ beherbergt eine Gemeinschaft metaphorisch aufgeladener Figuren, eine ganz auf sich und auf illusionistische Präsentation eingeschworene Zirkusgruppe, mit der Peter Weiss in seinem 1962 gesendeten Hörspiel die surreale Vision einer höchst privaten und doch ganz allgemeingültigen Identitäskrise beschwor.
Mit fremdelndem Auge blickt der zurückgekehrte Sohn auf eine autoritär beherrschte Atmosphäre, die sich seit seiner Flucht nicht geändert hat. Noch immer unterstehen die Künstler einem gealterten schnoddrigen Direktorenpaar, das als Vater-und-Mutterersatz fungiert und mit eingefrorener Gebärde das Zepter der Disziplin und Ordnung schwingt. Dem sich als „Ausbrecher mit Entfesslungsnummer“ anbietenden Pablo gelingt am Ende tatsächlich die Befreiung aus der tiefenpsychologischen Fesselung, doch nicht er, sondern ein anderer, der weiche, sensible Carlos, flieht nun aus der Gemeinschaft. Pablo bleibt als Fluchthelfer zurück. Die Freiheit im Kopf, die Fesseln zu seinen Füßen, steht er in den Ruinen seiner Vergangenheit, während ein anderer aufgebrochen ist, sein Schicksal zu doppeln.
Mit kongenialer Regiehand ist es Jobst Langhans gelungen, die Atmosphäre des schwierigen Hörspiels auf die Bühne des Theater Forum Kreuzberg zu zaubern. Nicht pralle Bildlichkeit, nicht ein egoistisch ausgebreitetes Sammelsurium schnell abgefeuerter Ideen bestimmt das Spiel, sondern eine wohltuende Bescheidung auf das Wesentliche. Die durch die träumerische Musik Jürgen Ruoffs unterstützte Vision verquickt Traum und Wirklichkeit unterschiedslos und bringt Konkretes und Vorgestelltes wie von selbst ins surreale Schwimmen. Unheimlich wird an Türen geklopft und an Mauern gehorcht, die ihre unüberwindliche Festigkeit einer rein mentalen Einstellung verdanken, und das Schreiben ohne Tinte, das Essen ohne Lebensmittel verdichtet sich zu einer geradezu gespenstischen Ansicht, die mehr Kälte den Rücken herunterlaufen läßt, als es jede dumpf abgebildete Realität vermöchte. Diese flirrende imaginäre Vorstellungswelt wird durch ein Ensemble zusammengehalten, das mit einer selten so dicht wahrnehmbaren Menschendarstellung hervortritt.
Kein Wort des kryptischen Textes wird unter den Teppich gekehrt, sondern geht ein in die immer klare Charakterisierung der Figuren, die allesamt trotz metaphorischer Tiefenlastigkeit als lebende Wesen daherkommen. Allen voran gelingt es Eva Henke, als mütterliche Verwalterin, eine in jeder Bewegung glaubhafte alte Frau zum Leben zu erwecken, die in ihrer schlurfenden Granteligkeit ebenso belustigt, wie sie in ihrer starren, jeder Veränderung baren Unbeweglichkeit erschüttert: während im angedeuteten Zirkusrund der Abnabelungskampf tobt, sitzt sie, den Kopf in die Hand gestützt, im Hintergrund am Eßtisch und kontrapunktiert die Katastrophe mit der stoischen Beharrlichkeit der Unverbesserlichen.
Im Theater Forum Kreuzberg ist so ein kleines Meisterwerk gelungen, das fraglos zu den wichtigsten Aufführungen zählt, die momentan in der Berliner Theaterwelt anzutreffen sind – nicht nur weil der Gedankenwelt Peter Weiss' ganz entsprochen wird, sondern vor allem, weil es die aktuelle Bewältigungsproblematik so offen und direkt auf die Bühne bringt, daß sie dichter an die Gegenwart kaum geraten könnte. baal
Weitere Vorstellungen: heute und am 1./2. November um 20 Uhr im Theater Forum Kreuzberg
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