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Rachejustiz oder Gerechtigkeit?

■ Die Anklage gegen Honecker wirft enorme juristische Probleme auf/ Das Gericht muß nach DDR-Recht urteilen – oder „übergeordnete Rechtsgrundsätze“ einführen

Laut Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der damals noch existierenden DDR dürfen Verfahren, die sich auf mögliche Vergehen zu Zeiten der DDR beziehen, auch nur nach damals geltendem DDR-Recht verhandelt werden. Das entspricht auch dem Grundgesetz, das in Artikel 103 Absatz 2 die Anwendung rückwirkender Normen kategorisch ausschließt. Wo nicht gegen ein zum Zeitpunkt der Tat existierendes Gesetz verstoßen wurde, gibt es kein Verbrechen, keine Strafe.

Vor diesem Hintergrund hat die Staatsanwaltschaft am Berliner Kammergericht über zwei Jahre gegen Honecker und andere ermittelt, bevor sie im Juli dieses Jahres ihre Anklage präsentierte. Die Ankläger entschieden sich, Honecker und die anderen Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats, das Gremium, das für die Grenzsicherung der DDR zuständig war, nicht nur als Anstifter anzuklagen, sondern direkt wegen Totschlags in 49 Fällen. Für Mord hat es nicht gereicht, da soll es wenigstens Totschlag sein.

Nun haben ja bekanntlich weder Honecker noch Stoph oder Mielke an der Grenze selbst geschossen. Man muß also zumindest nachweisen, daß sie den Befehl dazu gegeben haben. Auf knapp 800 Seiten Anklage versucht die Staatsanwaltschaft deshalb im wesentlichen, eine Kausalität zwischen den Schüssen an der Mauer und dem Verhalten der Staatsführung nachzuweisen. Warum Honecker und seine ehemaligen „Kampfgefährten“ ausgerechnet für 49 der insgesamt mindestens 200 an der Mauer erschossenen Flüchtlinge verantwortlich sein sollen, erklärt Berlins Generalstaatsanwalt Naumann mit den Schwierigkeiten bei der Ermittlung. „Wenn wir erst rund 300 Fälle von Todesschüssen an der Mauer ausermittelt hätten, hätten wir das Lebensalter der Angeschuldigten weit übertroffen, ehe es überhaupt zum Prozeß gekommen wäre.“

Die Staatsanwaltschaft kann auch einen anderen schwerwiegenden Mangel der Anklage schlecht dementieren. Trotz intensiver Suche haben die Fahnder den Schießbefehl Honeckers nicht gefunden – und zwar deshalb, weil er wahrscheinlich gar nicht existiert. Bekannt sind von Honecker zwei protokollierte Äußerungen zu den Schüssen an der Mauer. Die erste stammt aus einer Lagebesprechung sechs Wochen nach dem Mauerbau 1961, in der Honecker darauf hinweist, daß die Grenztruppen zur Verhinderung einer Flucht auch schießen sollen. Die zweite Protokollnotiz, die Honecker persönlich erwähnt, stammt aus einer Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates vom 3. Mai 1974. Laut Protokoll hat er in dieser Sitzung betont, daß zur Grenzsicherung auch von der Schußwaffe Gebrauch gemacht werden soll und Grenzer, die geschossen hätten, belobigt werden sollen. Die Äußerung, wenn sie richtig wiedergegeben wurde, läßt an Honeckers Überzeugung zum damaligen Zeitpunkt keinen Zweifel. Nur, ist sie auch strafrechtlich relevant? Begründet sie seine direkte Täterschaft als Totschläger, wie die Staatsanwaltschaft meint? Honeckers Anwälte sehen darin eine Meinungsäußerung, die keinerlei kausalen Zusammenhang mit einem konkreten Schuß an der Grenze hat. Die Grenzsoldaten hätten über die Debatten im Nationalen Verteidigungsrat keinerlei Kenntnis gehabt – wie hätten sie also Honeckers Meinung als Rechtfertigung für ihr konkretes Handeln heranziehen können?

Doch selbst wenn den Grenzern ein Tagesbefehl unter Bezug auf den Staatschef vorgelegen hätte, ihr Vorgehen an der Grenze war spätestens seit Mai 1982 klar definiert. Zu diesem Zeitpunkt verabschiedete die Volkskammer das bis zum Ende der DDR gültige Grenzgesetz, in dem auch geregelt wurde – wie in dem westdeutschen übrigens auch –, in welchen Fällen die Grenzer schießen dürfen. Laut Einigungsvertrag muß die Staatsanwaltschaft nachweisen, daß Honecker gegen dieses Gesetz verstoßen hat. Ist dies nicht möglich, und soll trotzdem eine Verurteilung herauskommen, muß das Gericht die Einführung übergeordneter Rechtsgrundsätze akzeptieren, deren Verletzung Honecker dann überführt werden kann. Der Bundesgerichtshof hat mit seinem Urteil zu den Mauerschützen bereits den Weg dazu gewiesen: Wenn die Schützen hätten wissen müssen, daß das Grenzgesetz ein rechtswidriges Gesetz ist, deren Befolgung sie hätten verweigern müssen, wird sich für Honecker allemal eine Regelung finden lassen. Jürgen Gottschlich

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