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Reise in die aufrührerische Mark Brandenburg

■ Ein historischer und literarischer Wanderführer

„Mark Brandenburg, freiheitlich und rebellisch“, heißt das neue Buch von Joachim Berger, mit dem er uns zu Spaziergängen und Fahrradtouren ins südliche und westliche Brandenburg (und natürlich zum Kauf des Buchs) verlocken will. Durch sein „Kreuzberger Wanderbuch“ (1984) und „Berlin, freiheitlich und rebellisch“ (1986) bekannt, hat sich der Ex-Kreuzberger nun auf weitere Pfade begeben. Die zahlreichen verlegerischen Schnellschüsse für Tourenvorschläge ins neue Festland der Westberliner hat er abgewartet. Nun kommt Berger mit seinem Buch über Rebellion und Freiheit in der Mark Brandenburg heraus. Wer sich fragt, ob in diesem stark von Großgrundbesitz und Adel geprägten Landstrich, den Fontane so intensiv und ausführlich beschrieben hat, überhaupt Aufrührer, RevolutionärInnen und Querköpfe gelebt haben, bekommt hier eine Antwort: Sie haben, Berger beweist es, wenngleich die Begriffe rebellisch und freiheitlich manchmal wohl etwas überstrapaziert werden. Der Arzt Carl Ludwig Schlei, „Erfinder“ der örtlichen Betäubung — ein Rebell? Der Maler Hans Baluschek — freiheitlich gesinnt? Bei großzügiger Interpretation: ja.

Auf 288 Seiten wird ein Streifzug unternommen, bei dem wir auf Bekanntes und auch völlig Unbekanntes stoßen. Gleich hinter der Stadtgrenze, auf dem Südwestfriedhof in Stahnsdorf, sind seit 1909 Berlinerinnen und Berliner begraben worden. In einem siechenden Kiefernwald (Umbettungsblock, Feld 17, Wahlstelle 178) finden wir den Grabstein von Hugo Conwentz (1855-1922), dem Leiter des Westpreußischen Provinzialmuseums. Der heute vergessene Conwentz, studierter Biologe, warnte schon früh vor den Folgen einer expansiven Industrie für die Pflanzenwelt. 1904 erschien seine Denkschrift „Die Gefährdung der Naturdenkmäler und Vorschläge zu ihrer Erhaltung“. Conwentz — ein Vorläufer der grünen Bewegung.

In Niemegk werden wir zum Geburtshaus von Martin Anton Niendorf (1826-1878) geleitet. Niendorf war Sohn eines verarmten Landwirts und 1848 ein Dichter der Revolution in Berlin. Seine Verse, veröffentlicht 1849 als „Berlins Revolutionszeit in Gedichten“, führten zu seiner Entlassung aus dem Lehramt und zu sechs Monaten Haft wegen „Ehrfurchtverletzung gegen den Monarchen“. Trotz bronzener Gedenktafel ist Niendorf ein vergessener Poet, selbst in Niemegk. In Park und Schloß Wiepersdorf, nahe der Grenze zu Sachsen-Anhalt, können wir über die rebellische Bettina Brentano nachdenken, die großbürgerliche Kaufmannstochter, die den verarmten Dichter und Gutsbesitzer Achim von Arnim heiratete. In Wiepersdorf schlug sie sich mit den Niederungen des Alltags herum: kärglichem Abendessen, Kartoffeln und Gurken, verschlissenen Hosenträger, selbstgefertigten Abtrittsdeckeln. Nach der Berliner Zeit mit ihrem berühmten literarischen Salon schrieb sie in der märkischen Einsamkeit ihre Anklage gegen König Friedrich Wilhelm IV. Um die Zensur zu umgehen, widmete sie ihm das Buch und forderte den Monarchen auf, statt des Protzdoms in Berlin 1.000 Hütten für die Weber in Schlesien zu bauen. Wie wir wissen, vergeblich: der Berliner Dom steht bis heute. Bettinas Satz „Revolutionen sind keine Verbrechen, sondern die Folge von Verbrechen“ wäre eigentlich ein schöner Spruch für den neuen Fünfmarkschein gewesen, auf dem Bettina von Arnim abgebildet ist. Schade, daß in dem von der Lektorin des Buches, Grit Ott, verfaßten Kapitel der Hinweis fehlt, was das von Arnimsche Schloß heute ist: eine Bildungsstätte für Literaten und Künstler. Wer will, kann sich im Schloß einmieten.

Mit diesem Buch gelangen wir aber auch in die unmittelbare Vergangenheit, zum Beispiel zu Rudi (preußisch korrekt hier immer nur Rudolf genannt) Dutschkes Oberschule in seiner Heimatstadt Luckenwalde, zu den Ereignissen im Herbst 1989 und der Zeit des Machtvakuums zwischen dem Fall der Mauer und den Volkskammerwahlen im März 1990.

Auch Robert Havemann findet Erwähnung. Er war Widerstandskämpfer gegen die Nazis und zu DDR-Zeiten die wichtigste Symbolfigur für einen freiheitlichen Sozialismus. Im Zuchthaus von Brandenburg saß er 1944 als Todeskandidat, gleichzeitig mit Erich Honecker. Überlebt hat Havemann, weil er den Nazis einreden konnte, daß seine Forschungen kriegswichtig seien. Havemann war Herausgeber der illegalen Knast-Tages-(!)Zeitung Der Draht. Die Auflage: zwei Exemplare, von Ohr zu Ohr weitergeflüstert.

Es macht Spaß, in dem Lese- Wander-Buch zu stöbern und mal hier, mal da ein kleines Kapitel zu lesen. Mit Sorgfalt ausgewählte Fotos begleiten den Text. Die aktuellen Bilder von Christoph Lang fangen die Atmosphäre der Mark ein: schlafende Hunde, Gemäuer im Schatten, aristokratische Freitreppen.

Sehr praktisch sind die am Ende jedes Kapitels abgebildeten Karten mit einem Vorschlag für eine Wandertour und einem Fahrradtrip. Wenn mit dem Autor nicht etwas zu häufig seine ausschmückende Phantasie durchgegangen wäre, wohl in einem verschwiegenen Hang zur romantischen Literatur, wäre manches besser geworden. Trotzdem — eine interessante Entdeckungsreise. Das Buch ist handlich, kein Wälzer, und kann damit auch zum ständigen Begleiter durch die (märkischen) Lande werden. Für 1993 ist „Mark Brandenburg, freiheitlich und rebellisch, Nord und Ost“ angekündigt. Ich bin gespannt. Jürgen Karwelat

Joachim Berger: „Mark Brandenburg, freiheitlich und rebellisch“ (Süd und West), Lese-Wander- Buch, Goebel-Verlag Berlin 1992, 288 Seiten, 175 Abb., 25 Karten, kartoniert, 19,80 DM.

Vorstellung des Buchs am Freitag, den 22.11., um 20 Uhr in der Dorotheenstädtischen Buchhandlung, Turmstraße 6, Moabit.

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