piwik no script img

Nein!

Sollte der Artikel 16 gestrichen oder durch eine faule Floskel ersetzt werden, verliert Deutschland den Grund einer Geschichte, die uns in der Tat einigen könnte/ Ein Wort zur Situation  ■  Von Peter Härtling

Ich werde das Elend unserer Geschichte beklagen, der einen und zwiefachen deutschen Geschichte. Ich werde in aller Kürze eine Geschichte erzählen, die uns dieses Elend klarmachen kann, ein Bündel von Verdrängungen, Feigheiten, Aggressionen, Freßsüchten, Anmaßungen und Egoismen. Ein paar Sätze dagegen.

1848, als das deutsche Parlament zusammentrat, um sich eine fortschrittliche Verfassung zu geben, hielt es ein Abgeordneter für nötig, vor den Artikel eins, der die Würde des Menschen benannte, seinen Artikel zu stellen. Er schrieb folgenden Antrag:

„Als Artikel 1 vor Artikel 1 des Entwurfs, der dann Artikel 2 würde, einzuschalten: Das deutsche Volk ist ein Volk von Freien, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.“

Hier bekommt die angesprochene Würde des freien Menschen einen leuchtenden Rahmen. Und der deutsche Boden ist nicht biedere, ideologisch verengte Heimat, sondern Zufluchtsgrund für jene, die frei sein wollen. Was für ein Angebot! Wie selbstverständlich wird da von Deutschland gesprochen, ohne jede Krafthuberei, ohne jede Arroganz. So spricht der wirklich Freie. Jacob Grimms Antrag wurde mit einer Mehrheit von 13 Stimmen abgelehnt.

1945 war ich 13 Jahre alt. Der Zweite Weltkrieg, hatte mir meine Eltern genommen. Mein Vater hatte als Rechtsanwalt leise und beherzt Hitler widerstanden. Meine Mutter war „arisch“ nicht in Ordnung. Und ich nahm mir als kleiner Nazi, als Pimpf, das falsche Recht, mich gegen meine Eltern zu behaupten. Als der Krieg zu Ende war, machten mir die Erwachsenen vor, wie rasch und wie folgenlos das Vergessen sein kann. Aus meinen nazistischen Vorrednern wurden Patentdemokraten, bußfertige Christen – auf alle Fälle Erfolgreiche im aufblühenden Wirtschaftswunderland.

Mir sind diese schnellen Anverwandler unheimlich bis auf den Tag. Aber einige wenige erzählten unsere Geschichte weiter, und als die Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland, das Grundgesetz, geschrieben wurde, erinnerten sie sich an alle, die verfolgt wurden, die Asyl suchten, ins Exil gingen, und sie formulierten für den Artikel 16 einen großen, großmütigen Satz: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Da öffnet sich ein Tor. Da nimmt eine Geschichte aus Gewissen ihr Recht wahr.

Dieser Artikel wurde nicht abgelehnt.

Er soll jetzt, nach 43 Jahren Verfassungswirklichkeit, zerredet und gestrichen werden. Nach dem Wunsch von Demokraten, die Söhne und Töchter der Verfolger und mitunter auch der Verfolgten sind.

Ich hoffe, daß alle, die Geschichte denken und Geschichten erzählen, diesem ungeschichtlichen, uns demütigenden und beschämenden Vorsatz widersprechen.

Nein, Ihr Verdränger, Ihr Vergeßlichen!

Nein, Ihr von den Erfolgen blankgeriebenen Egoisten!

Nein!

Und Nein auch gegen die Jungen, die von neuem in unserem Land Menschen verfolgen, Schwächere demütigen, Feuer legen.

Allerdings ein Nein, das Geschichte zusammenfaßt, wiederum unsere. Wenn diese Jungen sich auf Hitler berufen, dann gegen unser Verdrängen, gegen unsere Betriebsamkeit und gegen die Lügen, die sie ausgehalten haben, um identisch mit sich zu sein.

Den furchtbaren Kindern von Rostock und Wismar wurde weisgemacht, daß der Antifaschismus in der Gesellschaft Ost ein Patentrezept sei, so wie der Kapitalismus im Westen ein Patent für Gedächtnisverlust! Die Kinder wuchsen reglementiert auf und fielen in eine Freiheit, die ihnen niemand erklärte, womöglich – und das ist ein Menetekel für uns – niemand erklären wollte und konnte. So suchten sie, die schwach Gewordenen, ihre Feinde unter den Schwächsten, fanden ihre Parolen genau dort, wo die Väter und Großväter geschwiegen hatten.

Ich rufe uns auf, im Namen Jacob Grimms! Uns Freie auf einem freien Boden. Nicht, daß wir alles verschenken könnten und wollten, aber wir haben eine Menge zu vergeben! Und ein Stück unserer Würde zu verteidigen. Ich rufe uns auf, Menschen Zuflucht zu geben, die verfolgt werden von Folterern, von Ideologen, von Totschlägern, vom Hunger. „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“

Sollte dieser Artikel gestrichen oder durch eine faule Floskel ersetzt werden, verliert Deutschland, das mühselig, aber gewiß nicht unglücklich wieder zusammengekommen ist, den Grund einer Geschichte, die uns in der Tat einigen könnte.

Wir gäben denen nach, die entweder fett in sich selber ruhn oder die mordlustig darauf warten, uns von Rechts wegen wegzuräumen.

Nein! Ich bitte Sie, erinnern Sie sich. „Deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen