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Sozialgesetze im Dienste der Industrie

■ Historiker wollen neuen Streit anzetteln

„Die Mystifizierung der Sozialgeschichte ist bis heute nicht herausgefordert worden. Wir hoffen, mit der Infragestellung der gängigen Lehrmeinung einen neuen Historikerstreit zu entfachen.“ Mit diesen Worten forderte am Samstag der Historiker Karl-Heinz Roth von der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte in der Akademie für Arbeit und Politik eine gängige Lehrmeinung heraus: Das System der deutschen Sozialversicherung sei keineswegs vorbildlich und einmalig.

Zwar gelte die deutsche Sozialversorgung heute als eine, die auf der Welt ihresgleichen suche. Doch sei dies keineswegs das Ergebnis einer starken Arbeiterbewegung gewesen. Die Verantwortung für die heutige Absicherung liege bei Reichskanzler a.D. Bismarck, der seinerzeit mit einer Sozialgesetzgebung den sozialen Frieden sichern und der Industrie eine möglichst kostengünstige Versorgung der Arbeiterschaft ermöglichen wollte. Zudem konnte der Kanzler damit auch noch sozialrevolutionären Ideen das Wasser abgraben. Warum sollten die Massen auf die Straße strömen, wenn Staat und Industrie sie mit Kranken- und Unfallversicherung befriedeten?

Die zahlreichen Unfälle in Bergbau und der zunehmend technisierten Industrie hatten in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Streiks und soziale Unruhen ausgelöst. Bismarck reagierte zunächst mit einer gesetzlichen Unfallversicherung, die der Industrie teure Schadensersatzzahlungen ersparte und gleichzeitig die Kosten auf die Schultern der ArbeiterInnen verteilte.

Die Unfallversicherung wie auch die kurze Zeit später eingeführte Krankenversicherung war „eine Folgenbewältigung und nicht eine Ursachenbekämpfung“, meint Roths Mitstreiter Arne Andersen von der Bremer Universität. „Bis heute müssen Arbeitsschutzmaßnahmen nur soweit vorgenommen werden, wie sie für das Unternehmen ökonomisch tragbar sind.“

Die hohe Fluktuation in der Belegschaft war für die Industrie sehr unrentabel. Im Interesse der Unternehmen sollte die Stammarbeiterschaft mit sozialen Maßnahmen und Wohnungsbau an die Unternehmen gebunden werden.

Während die Arbeiterbewegungen in anderen westlichen Industriestaaten Arbeitslosenversorgung und verbesserte Arbeitsbedingungen wie den 8-Stunden- Tag und die Abschaffung der Kinderarbeit in den Mittelpunkt stellten, schloß man hierzulande einen Pakt mit dem Staat. „Die deutsche Sozialdemokratie hat den historischen Fehler gemacht, sich auf Bismarck einzulassen und Arbeitslosigkeit und Arbeiterschutz zu vernachlässigen“, meint Roth. Deshalb setzte sich die Arbeitslosenversicherung erst 1927, pünktlich zur Weltwirtschaftskrise, durch.

Doch die erste und entscheidende Zerreißprobe konnte sie nicht bestehen. Schon bald wuchs die Zahl der Arbeitslosen der Versicherung über den Kopf, bis die Nazis sie wieder abschafften in den 30er Jahren.

In anderen Ländern ist nach Ansicht von Roth nur schwer nachvollziehbar, wie sich die Arbeiterbewegung mit einem solchen Ausmaß an Verstaatlichung der sozialen Sicherung arrangieren konnte. „Der Zwangscharakter der Sozialversicherung bedeutet, daß real Lohnanteile abgezogen werden“, so Roth. Silke Mertins

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