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ČSFR: Wer erbt die Prager Burg?

Nach der Verabschiedung des Verfassungsgesetzes über die Auflöung der Tschechoslowakei streiten sich die beiden Nachfolgestaaten um die Teilung des gemeinsamen Eigentums  ■ Von Sabine Herre

Die Szene war bezeichnend. Als an jenem Novembersamstag im rosengeschmückten Saal des Slowakischen Nationaltheaters in Bratislava der Staatsakt für den ersten Mann des „Prager Frühlings“ vollzogen wurde, da erlebte auch der tschechoslowakische Traum von der „Wahrheit, die siegen wird“, eine seiner endgültigen Niederlagen. Denn während Genossen und Freunde – wie etwa auch Ex-Staatspräsident Václav Havel – ihre persönlichen Erinnerungen an Alexander Dubček verschweigen mußten, verwandelte die neue nationalistische Elite der slowakischen Republik den Reformkommunisten in einen der Ihren, feierte ihn als „großen Slowaken“. Daß Alexander Dubček zeitlebens ein überzeugter „Tschechoslowake“ war, kam nicht zur Sprache. Daß Alexander Dubček die Teilung des Landes, die auch er nicht verhindern konnte, als eine seiner letzten politischen Niederlagen erlebte, wurde nicht mehr erwähnt.

Die wenigen angereisten Tschechen, unter ihnen als Ranghöchster der Vorsitzende des tschechischen Nationalrates, Milan Uhde, bekamen dagegen den Mund nicht auf. Der tschechische Ministerpräsident Václav Klaus war wegen „Arbeitsüberlastung“ erst gar nicht nach Bratislava gereist. Was der überzeugte Marktwirtschaftler von allen Versuchen, den Sozialismus zu reformieren, hält, daran hatte er schon in den Tagen der „samtenen Revolution“ des Novembers 1989 – als ganz Prag den auf die politische Bühne zurückgekehrten Dubček noch stürmisch feierte – keinen Zweifel gelassen. Doch die Arroganz, mit der er es nun ablehnte, dem in der ganzen Welt verehrten Toten die letzte Ehre zu erweisen, läßt sich nicht einfach – wie von der Prager Presse versucht – mit politischer Ungeschicklichkeit entschuldigen. Deutlich werden sollte: Im Unterschied zur slowakischen Republik kann die tschechische gut auf die identitätsstiftende Rolle Dubčeks verzichten.

Nachdem beide Seiten so den „Kommunisten mit menschlichem Antlitz“ für ihre politischen Ziele mißbraucht hatten, trafen sie sich– nicht ohne vorher einen „Trauercocktail“ einzunehmen – hoch über der Donau im Betonbau des Hotels „Borik“ zu weiteren Verhandlungen über die Teilung der Republik. Auf der Tagesordnung stand der Weg zur verfassungsrechtlichen Auflösung der Föderation. Sechs Wochen vor Jahresende stand ohne Zweifel fest, daß am 1.1.93 zwei neue selbständige Staaten das Licht der Welt erblicken würden.

„Spaltungspolitik“

Unklar war jedoch weiterhin, ob das angestrebte Ziel durch ein Gesetz der Föderalversammlung oder durch Proklamationen der Landesparlamente erreicht werden sollte. Nicht völlig vom Tisch war außerdem die oppositionelle Forderung nach einer Volksabstimmung. Zwar schätzten auch Sozialdemokraten, Reformkommunisten und Christdemokraten die Chance, durch ein Referendum die Teilung nach monatelangen Diskussion über ihre „Unumkehrbarkeit“ doch noch verhindern zu können, als gering ein. Deutlich werden sollte jedoch, daß ein großer Teil der Bevölkerung die „Spaltungspolitik“ der Regierungen weiterhin ablehnt.

Den Schwarzen Peter, die Verantwortung für die Teilung, wollte sich Václav Klaus jedoch nicht in die Tasche schieben lassen. Die Bevölkerung, so seine Erklärung, hätte ihm bei den Parlamentswahlen im vergangenen Juni ein Mandat für alle notwendigen politischen Entscheidungen erteilt, der ökonomische Reformprozeß sollte nicht durch langwierige Vorbereitungen für eine Volksabstimmung behindert werden. Und auch sein Wunsch, die beiden Landesparlamente über die Teilung abstimmen zu lassen, war weniger von verfassungsrechtlichen als rein machtpolitischen Argumenten bestimmt. Die für ein Verfassungsgesetz notwendige Dreifünftelmehrheit ist im tschechischen Nationalrat einfacher als in der Föderalversammlung mit ihrem komplizierten Dreikammersystem zu erhalten.

Von taktischen Überlegungen bestimmt war auch die Haltung des slowakischen Premierministers. Nachdem Vladimir Mečiar in den Monaten nach den Juniwahlen immer deutlicher zum Ausdruck gebracht hatte, daß er der Teilung der ČSFR ihre Umwandlung in eine Konföderation vorziehe, versuchte er nun die Verantwortung für die Auflösung vom slowakischen Nationalrat, in dem seine „Bewegung für eine demokratische Slowakei“ (HZDS) die Mehrheit hat, auf die Föderalversammlung, in der die „Bürgerlich-demokratische Partei“ (ODS) von Klaus stärkste Partei ist, abzuschieben.

Die Lösung, auf die man sich in Bratislava schließlich einigte, machte noch einmal deutlich, daß die Regierungsparteien die Teilung der ČSFR als ihre „Privatangelegenheit“ betrachten. Ein Kompromißvorschlag, der auch eine Volksabstimmung vorgesehen hätte, scheiterte. Nachdem die Landesparlamente in Resolutionen die Annahme des Trennungsgesetzes empfohlen hatten, verabschiedete das Bundesparlament dieses am vergangenen Mittwoch.

Den Freudenfeiern, denen sich das „Hohe Haus“ nach dem Auflösungsbeschluß hingab, blieb jedoch nicht allein die Opposition fern. Auch Vladimir Mečiar hatte wenig Grund zum Feiern. Denn während die zweitstärkste Partei der Slowakei, die ex-kommunistische „Partei der demokratischen Linken“ (SDL), die nationalistische Politik Mečiars ebenso wie sein undemokratisches Vorgehen gegen politische Gegner bisher stets verteidigt hatte, war sie bei der Abstimmung über das Teilungsgesetz zum erstenmal zu einer großen Koalition mit den oppositionellen Christdemokraten bereit. Selbst ihr karrierebewußter Vorsitzende Peter Weiß schien es nun für notwendig zu halten, gegen die faktische Alleinherrschaft der HZDS aufzutreten.

Ein weiterer Grund dürfte für Weiß auch die Verpflichtung gegenüber der eigenen Wählerschaft gewesen sein. Mehr als fünf Monate nach den Parlamentswahlen ist es der Regierung Mečiars nämlich nicht gelungen, einen Ausweg aus der wirtschaftlichen Misere zu entwickeln. Im Gegenteil: Wegen der außenpolitischen Ungeschicklichkeit der HZDS, die durch den Konflikt um das Staustufenprojekt Gabčikovo negative Aufmerksamkeit auf sich lenkte, konnten größere Investoren nicht gefunden werden. Und obwohl durch die Verträge über eine Zoll- und Währungsunion mit der Tschechischen Republik eine Auflösung des gemeinsamen Marktes verhindert werden konnte, werden durch die ab 1993 getrennten Haushalte der Slowakei die Jahr für Jahr aus Böhmen und Mähren ins Land fließenden Unterstützungszahlungen in Höhe von 30 Milliarden Kronen (ca. 1,8 Mrd. DM) fehlen. Das Land befindet sich, das mußte Mečiar inzwischen selbst eingestehen, am Rande der Zahlungsunfähigkeit.

Slowakei in Schwierigkeiten

Völlig unklar ist somit, wie lange die Währungsunion überhaupt aufrechterhalten werden kann. Schon jetzt geht man in Prag davon aus, daß die Kaufkraft der tschechischen Krone diejenige der slowakischen um das Dreifache übertrifft. Schon jetzt ist man in Prag davon überzeugt, daß die Bereitschaft von Václav Klaus, einen Wechselkurs von 1:1 zu akzeptieren, weniger von ökonomischen als von politischen Gründen bestimmt war: Hamsterkäufe und Kapitalflucht, die die Ankündigung einer Abwertung der slowakischen Krone begleitet hätten, sollten den komplizierten Auflösungsprozeß der ČSFR nicht noch mehr „chaotisieren“. Nicht verstimmt werden sollte außerdem die EG; beide Seiten hoffen, daß der von der ČSFR- Regierung abgeschlossene Assoziierungsvertrag von ihnen übernommen werden kann.

Eine „Flucht“ findet aber dennoch statt. Aus Angst vor einer Beschränkung demokratischer Rechte, vor der Verfolgung nationaler Minderheiten, aber auch aus wirtschaftlichen Gründen prüfen vor allem die Angehörigen der intellektuellen Oberschicht, ob sie ihren Wohnsitz nicht besser nach Böhmen oder Mähren verlegen sollten. Schwierigkeiten mit der Arbeitserlaubnis erwartet sie nach den Verträgen, die die Regierungen der beiden ČSFR-Nachfolgestaaten unterzeichneten, nicht. Zumindest vorerst. Sollte sich jedoch die wirtschaftliche Situation auch in der tschechischen Republik, deren Arbeitslosenrate bisher zu den niedrigsten in Europa zählt, verschlechtern, werden die „ausländischen“ Arbeitskräfte kaum mehr freudig begrüßt werden. Da Václav Klaus die von Mečiar gewünschte „doppelte Staatsbürgerschaft“ ablehnte, bliebe den slowakischen „Auswanderern“ dann nur noch eines: Sie müßten einen tschechischen Paß beantragen.

Nicht mehr aufrechterhalten werden könnte dann wohl auch die liberale Grenzregelung. Bisher ist vorgesehen, daß die BürgerInnen beider Staaten die gemeinsame Grenze auch nach dem 1.1.93 ohne jede Kontrolle und an jeder Stelle „überschreiten“ dürfen. Überprüft werden sollen allein „wirkliche“ Ausländer, doch auch für sie wurden – nicht zuletzt aus finanziellen Gründen – bisher keine Grenzübergänge errichtet.

Eine Niederlage erlebte Mečiar auch bei der Entscheidung über die Aufteilung des auf 37 Milliarden DM geschätzten Föderaleigentums. Da dessen „unbeweglicher“ Teil – wie zum Beispiel Immobilien – sich vor allem in Prag befindet, forderte er eine finanzielle Entschädigung. Das nun von der Föderalversammlung verabschiedete Gesetz sieht jedoch lediglich ein „territoriales Prinzip“ vor, jede Republik erhält, was sich auf ihrem Territorium befindet. Negative Auswirkungen hat dieser Beschluß auch auf die Teilung der Armee: Der Großteil der militärischen Anlagen befindet sich im ehemals strategisch wichtigeren Westteil des Landes. Beweglicher Besitz wird dagegen nach dem Prinzip 2:1 geteilt, eine Entscheidung, die sich nach dem Bevölkerungsverhältnis der beiden Teilrepubliken richtet, Böhmen und Mähren zählen zehn, die Slowakei fünf Millionen EinwohnerInnen.

„Tschechei“ ist falsch

Probleme ganz anderer Art hat die Tschechische Republik. Während die Slowakei schon im September ihre Verfassung verabschieden konnte, erwartet die Tschechische Republik nach monatelangen zähen Verhandlungen über die neue Konstitution eine ebenso zähe Parlamentsdebatte. Hauptgrund für die Verzögerungen sind die unterschiedlichen Vorstellungen über die verfassungsmäßige Gliederung. Da sich die Tschechische Republik ebenso wie die ČSFR aus zwei Landesteilen, Böhmen und Mähren-Schlesien, zusammensetzt, droht auch dem neuen Staat das Problem des „Dualismus“. So möchten mährische Politiker Mähren zu einem Bundesstaat machen, der Böhmen gleichberechtigt wäre. Klaus bevorzugt dagegen – nicht zuletzt um die Prager Zentrale zu stärken – eine weitgehende Dezentralisierung der Republik in fünf bis neun Bezirke.

In enger Verbindung mit der staatsrechtlichen Ordnung steht auch die Frage des Namens der neuen Republik. Während viele ältere Tschechen die eigentlich logische Bezeichung „Česko“ – zu deutsch: Tschechei – wegen der Erinnerung an die Hitlersche Forderung nach der „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ ablehnen, viele Mähren den Namen „Tschechomähren“ fordern, plädiert eine dritte Gruppe für die Bezeichnung „Českoslovansko“, was übersetzt soviel wie „Tschechoslawokei“, die Republik der tschechischen Slawen, bedeutet.

Heftige Diskussionen werden außerdem über die Bedeutung des neu geschaffenen Amtes eines tschechischen Präsidenten geführt. So plädiert die ODS für eine eher repräsentative Funktion, das Staatsoberhaupt solle von beiden Kammern des Parlamentes gewählt werden, der Präsident dürfe sein Veto nicht gegen alle, sondern lediglich gegen Verfassungsgesetze einlegen können.

Václav Havel, der inzwischen seine Bereitschaft zur Kandidatur für das neue Amt bekanntgab, fordert dagegen eine Direktwahl. Da, so Havels Argumentation, die Bevölkerung weder durch ein Referendum noch durch Neuwahlen der neu geschaffenen Republik eine demokratische Legitimation verschaffen könnte, würde eine Wahl des Staatsoberhauptes gleichzeitig auch ein Plebiszit über den neuen Staat bedeuten. Tatsächlich geht es jedoch auch dem ehemaligen Dissidenten weniger um demokratietheoretische Überlegungen als um die Stärkung seiner eigenen Position: Mit der erwarteten überwältigenden Unterstützung durch die Bevölkerung im Rücken möchte Havel sich zum Gegenspieler von Václav Klaus entwickeln. Kein Wunder also, daß der tschechische Ministerpräsident vor einem Präsidialsystem warnt.

Doch selbst wenn es dem tschechischen Parlament nicht gelingen sollte, die neue Verfassung vor dem 31.12.92, dem Tag des „Erlöschens“ der ČSFR, zu verabschieden, selbst wenn die Auseinandersetzungen über die Teilung des föderalen Eigentums noch eine Weile fortdauern werden – die „sanfte Trennung“ der ČSFR wird dadurch nicht mehr aufgehalten werden können. Mit einer oft überraschenden Bereitschaft zu immer neuen Verhandlungen ist es den Spitzenpolitikern des Landes gelungen, in rund sechs Monaten den gemeinsamen Staat der Tschechen und Slowaken „abzuwickeln“. Und auch wenn den Slowaken inzwischen klargeworden ist, daß sie die Hauptverlierer der Spaltung sind – „jugoslawische Verhältnisse“ drohten der ČSFR nie.

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