: „Ich werde das Urteil nicht erleben“
Am sechsten Verhandlungstag meldete sich Erich Honecker zu Wort. Er verteidigte auch den Mauerbau. Nicht alle mochten dem Angeklagten zuhören, zwei Nebenkläger verließen den Saal. ■ Aus Berlin-Moabit Matthias Geis
Etwas ist anders an diesem Morgen im Moabiter Gerichtssaal. Stille auf den Zuschauerrängen, kein Ermunterungsgejohle wie sonst vor Prozeßbeginn. Die Zuschauer blicken gebannt nach vorne auf die Anklagebank. Dort geht es entspannter zu. Erich Honecker, bei seinen Verteidigern. Einer schiebt ihm ein Blatt mit etwas Witzigem hin. Alle vier lachen gelöst. Fast aufgekratzt. Dann baut Rechtsanwalt Nicolas Becker das Mikrophon vor seinem Mandanten auf.
Honecker verspannt sich schlagartig. Wie ein Junge vor der Prüfung, die Hände verkrampft unterm Tisch. Man ahnt bereits, es wird nichts werden. Der schwerkranke 80jährige, der schon fast über alle Berge war, der Republikflüchtling, der sich jetzt verantworten muß, der nicht zu seinem Regime stand, als es gescheitert war, er wird auch jetzt nichts erklären können. Schon rein physisch wird er es nicht durchstehen.
Doch es ist nicht Honecker, der, nachdem er vierzig Minuten seiner Rede gehalten hat, um eine Unterbrechung bittet, sondern Friedrich Wolff, der seinen Mandanten mahnt, mit den Kräften zu haushalten. Die scheint er an diesem Morgen für seine vielleicht letzte politische Rede restlos zu mobilisieren. Er schwadroniert und verteilt Spitzen, versucht es mit Ironie und altsozialistischem Pathos, spannt seinen historischen Bogen von der Entstehung des Kapitalismus bis zu den Morden von Mölln, und er brandmarkt die, die ihn heute „brandmarken“ wollen. An deren Unrecht läßt er keinen Zweifel: „Niemand in der alten Bundesrepublik, einschließlich der Frontstadt Westberlin, hat das Recht, meine Genossen Mitangeklagten und mich wegen Handlungen anzuklagen oder gar zu verurteilen, die in Erfüllung staatlicher Aufgaben der DDR begangen worden sind.“ Solche Sätze, die sich in Varianten durch den 26seitigen Redetext ziehen, kommen fest, überzeugt, ohne einen Anflug von Unsicherheit. Gegen den „offensichtlich unbegründeten Vorwurf des Totschlages“ werde er sich nicht verteidigen, „schon deshalb, weil ich Ihr Urteil nicht mehr erleben werde“, spricht Honecker den Vorsitzenden Richter Hansgeorg Bräutigam an. „Die Strafe, die Sie mir offensichtlich zudenken, wird mich nicht mehr erreichen.“ – Da spricht einer schon jenseits, des Prozesses, seiner Taten, seines gescheiterten politischen Lebenszieles.
Erwartungsgemäß hat er in der Zelle nicht sein Weltbild neu geordnet. Aber, was er da mit den überkommenen Bausteinen präsentiert, wirkt überzeugender als alles, was man während seiner aktiven Zeit von ihm zu hören bekam. Gebannt blicken die Mitangeklagten auf ihren einstigen Vormann. Im Gerichtssaal herrscht, was Honecker kaum zuvor je bewirkte: angespannte Konzentration, Stille, bis auf die wenigen Beifallsversuche seiner Anhänger, die Richter Bräutigam barsch abwürgt.
Beim Vergleich BRD-DDR bleibt Honecker auf Schnitzler-Niveau. Doch wo es um den historischen Krisen-Kontext des Mauerbaus geht, versucht er es mit Argumentation. Vielleicht so: „Mit dem Bau der Mauer war die Krise, wenn auch in einer für die Deutschen unerfreulichen Weise, nicht nur aufgehoben, sondern eigentlich auch abgeschlossen.“ Oh pardon, da ist ihm doch glatt ein Franz-Joseph-Strauß-Zitat ins Manuskript gerutscht („Erinnerungen“, Seite 390). So leitet Honecker seine Unschuld ab. Er habe mit der, zuvor eingestandenen, Mitverantwortung für den Mauerbau „nicht nur keine juristische, sondern auch keine politische und keine moralische Schuld“ auf sich geladen. Das ist die stärkste Passage seiner Erklärung. Facettenreich und aus unterschiedlicher Perspektive präsentiert er den Mauerbau als alternativlose Aktion zur Verhinderung eines drohenden dritten Weltkrieges. Das ist nicht neu und gehörte früher sozusagen zum Erklärungsstandard. Im Moabiter Gerichtssaal gewinnt das auch nur deshalb Brisanz, weil der historische Kontext des Mauerbaus fast zwanghaft aus der Anklageschrift wie auch aus dem neudeutschen Geschichtsbild herausgehalten wird. „Wie und warum es zum Bau der Mauer gekommen ist, interessiert die Staatsanwaltschaft nicht“, formuliert Honecker seinen stärksten Einwand. Im übrigen habe nicht er den Mauerbau „angeordnet“, wie die Anklageschrift suggeriert, sondern: kollektive Warschauer-Pakt-Entscheidung vom 5.August 1961.
Das klingt plausibel – und relativiert zugleich die wenigen Worte des Bedauerns über die Toten an der Mauer, die er anfänglich eingestreut hat. Honecker, auch nur Erfüllungsgehilfe im Sinne eines quasi historischen Befehlsnotstandes. Je eindringlicher er für die historische Perspektive wirbt, desto randständiger gerät ein anderer, ohnehin gewunden formulierter Satz vom Anfang: „Der unnatürliche Tod jedes Menschen in unserem Land hat uns immer bedrückt. Der Tod an der Mauer hat uns nicht nur menschlich betroffen... Das ist sicher eine schwere Verantwortung.“
Aber wie steht es mit den Entspannungspartnern von einst? Für sie hat Honecker eine scharfe, präzise formulierte Alternative parat: „Entweder haben die Herren Politiker der BRD bewußt, freiwillig und sogar begierig Umgang mit einem Totschläger gesucht, oder sie lassen jetzt bewußt und genußvoll zu, daß Unschuldige des Totschlages bezichtigt werden. Keine dieser beiden Möglichkeiten wird ihnen zur Ehre gereichen.“ Dazu hätte man die Angesprochenen schon gerne als Zeugen gehört. Aber parallel zu Honeckers letzter Offensive verdichten sich die Gerüchte, die vielleicht auch ihn gestern im Moabiter Gerichtssaal so entschlossen-selbstbewußt agieren ließen: Für ihn geht der Prozeß zu Ende. Seine Anwälte verkünden das bereits so, als habe sich auch Hansgeorg Bräutigam schon damit abgefunden. Unter dem Gesichtspunkt der entspannungspolitischen Moral wird auch der Kanzler froh sein, um die Konfrontation mit diesem Erich Honecker herumzukommen.
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