: Atomkraft jetzt Übergangsenergie
Die Bundesrepublik ist dem Ausstieg aus der Atomkraft näher gerückt. Die Chefs der Stromkonzerne RWE und VEBA bastelten mit der niedersächsischen Landesregierung einen Kompromiß, der auf den Verzicht auf neue AKW und das Endlager Gorleben hinausläuft. ■ Aus Hannover Jürgen Voges
Über dem Papier steht „Entwurf“, das Datum 21.September 1992, Absender und Unterschrift fehlen. Doch dieses vierseitige „Non-Paper“ war immerhin so wichtig, daß der IG-Chemie-Vorsitzende Hermann Rappe persönlich als Briefträger fungierte, um das Konzept für einen Kernenergiekonsens Bundeskanzler Helmut Kohl zukommen zu lassen. Es ist der ausgearbeitete Vorschlag der Energiekonzerne VEBA und RWE für neue „Leitsätze zur Nutzung vorhandener kerntechnischer Anlagen“ in Deutschland, auf den sich die Regierungschefs von Bund und Ländern – so hoffen die Autoren – „einvernehmlich verständigen“ sollen. Ziel des Vorschlages ist „der geordnete Ausstieg bzw. Umstieg aus der heute genutzten Leichtwasser-Reaktoren-Technik“ – eine Formulierung zum auf der Zunge zergehen lassen.
Der Kompromiß, in vielen Gesprächen zwischen Niedersachsens Ministerpräsident Gerhard Schröder und dem VEBA-Chef Klaus Piltz entstanden, soll Grundlage sein, wenn sich die Spitzen der Stromkonzerne am 18.Dezember in Bonn mit Kanzler Helmut Kohl zum „Energiegipfel“ treffen.
Einen energiepolitischen Konsens halten Piltz und der RWE- Chef Friedhelm Gieske „im Interesse der Versorgungssicherheit und zur Erlangung verläßlicher langfristiger Planungsunterlagen“ für „dringend erforderlich“. Das ist der Kernsatz des Briefes, den sie am 23.November dem Bundeskanzler schrieben und dabei die wesentlichen Punkte ihres Vorschlages noch einmal als Liste von „Sachthemen“ beifügten. Um für ihren neuen Kernenergiekonsens auch die sozialdemokratisch oder rot-grün-regierten Länder und da vor allem Niedersachsen mit seinen Entsorgungsstandorten ins Boot zu bekommen, enthält der Entwurf substantielle Zugeständnisse.
Für alle bestehenden Atomkraftwerke soll eine „Restlaufzeit“ vereinbart werden. „Jedes Atomkraftwerk wird nach XX Jahren reiner Laufzeit stillgelegt“, heißt es in dem Konsens-Vorschlag. Die genaue Länge einer solchen Regelnutzungsdauer ist noch strittig. Von niedersächsischer Seite wurden 20 Jahre ab Betriebsbeginn in die Gespräch gebracht. Die Energieversorger haben zunächst 20 Jahre tatsächliche Stromerzeugungszeit verlangt. Das könnte im Einzelfall allerdings auf eine Stillegung erst 35 Jahre nach Betriebsbeginn hinauslaufen. Einig war man sich in den Verhandlungen, daß die AKW Stade, Biblis A und Würgassen als erste endgültig abgeschaltet werden sollen.
Die beiden Stromkonzerne schreiben das Endlager Gorleben ab: „Projektbeendigung Gorleben nur bei gleichzeitigen Ersatzstandort — gegebenenfalls auch international“, heißt es als Stichwort im Verhandlungsvorschlag für den Kanzler. In dem mit Niedersachsen ausverhandelten Non-Paper steht deutlicher: „Gegebenenfalls in internationaler Kooperation werden anstelle des Standortes Gorleben für ein Endlager für stark wärmentwickelnde Abfälle alternative Standorte und alternative Endlagerformationen zu Salz untersucht“. Auch die im Bau befindliche Pilot-Konditionierungs- Anlage für Atommüll soll der Landkreis Lüchow-Dannenberg loswerden: „Eine Konditionierungsanlage wird — sofern erforderlich — am Standort eines Endlagers errichtet“.
Die Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente wollen VEBA und RWE nun auch im Ausland zum „frühestmöglichen Zeitpunkt beenden“. Nach dem Ende der Planungen für die WAA in Wackersdorf hatten sie Ende der achtziger Jahre langfristige Verträge für die Wiederaufarbeitung in Ausland unterschrieben.
Der Atommüll aus ihren Meilern soll stattdessen künftig direkt endgelagert werden, die neuen Entsorgungsrichtlinien von Bund und Ländern sollen die Wiederaufarbeitung ausschließen. Auf die mit La Hague (Frankreich) und Sellafield (England) ausgehandelten Möglichkeit dort auch nach dem Jahr 2000 Brennelemente wiederaufzuarbeiten würde dann verzichtet werden. In Verhandlungen über die bereits bindenden Altverträge „soll den ausländischen Partnern eine Kompensation“ — sprich Geld — angeboten werden, um aus den Verträgen herauszukommen. Für VEBA und RWE erübrigt sich darüberhinaus „der Weiterbau und die Inbetriebnahme der neuen MOX-Brennelemente-Fabrik“ für Plutonium in Hanau. Plutonium sei nur noch begrenzt und übergangsweise zur Brennelementproduktion zu verwenden, bis die Plutonium-Endlagerung technisch und wirtschaftlich anwendungsreif sei.
Umsonst ist nichts, auch bei den Herren von VEBA und RWE. Der wohl eher langfristige Ausstieg aus der Atomkraftnutzung, den Piltz und Gieske in ihrem Schreiben an Kohl zurückhaltend als „geordnetes Auslaufen der heute genutzten Kraftwerke“ präzisieren, soll mit einer „Wiederinbetriebnahme des Endlagers Morsleben sowie der zügigen Fertigstellung des Endlagers Konrad erkauft werden. Die Genehmigung von Schacht Konrad sei „vordringlich und unverzichtbar“, so die Konzernherren. Auch in dem mit Niedersachsen abgestimmten Non-Paper heißt es, „Schacht Konrad werde vorbehaltlich der Rechtsstellung von Genehmigungsbehörden und Dritten zügig in Betrieb genommen“. Dies wäre das gravierendste Zugeständnis des rot-grün-regierten Bundeslandes an den neuen Konsens, an dem vor allem der grüne Koalitionspartner schwer zu tragen hätte.
Vom AKW-Bau wollen sich die beiden Strombosse mit ihren Vorschlag noch nicht definitiv verabschieden. Abschalten wollen sie AKW nur, wenn vorher neue große Kohle- oder Gaskraftwerke errichtet werden. Für die Zukunft, so machen sie in ihrem Schreiben an Kohl deutlich, soll für den Neubau kommerzieller AKW „breite politische Zustimmung“, also auch die der SPD, Voraussetzung sein. So könne etwa eine Enquete- Kommission des Bundestages Vorgaben für die Kernenergientwicklung formulieren, bei „deren Erfüllung Strom aus Kernenergie wieder breite Akzeptanz finden wird“. Die Stromkonzerne haben dabei den neuen, angeblich sicheren Reaktortyp im Auge, der in Kooperation mit dem Ausland entwickelt werden soll. In dem Non-Paper heißt es dazu ausführlicher, künftigen Generationen solle „die Entscheidung für oder gegen die Kernenergie offengehalten werden“. Deswegen solle die Weiterentwicklung der AKW-Technologie „Gegenstand von Forschungs- Technologiepolitik bleiben“. Ein erneuter Einstieg in die Kernenergienutzung müsse jedoch gleichzeitig realistische Entsorgungwege aufzeigen und bedürfe „einer breiten politischen Zustimmung“ (z.B. mind. einer Zweidrittelmehrheit des Bundestages).
Gieske und Piltz verlangen in dem Non-Paper auch, daß die AKW-Betreiber endlich das Problem der Entsorgung auch juristisch gelöst bekommen. Bis zur Schaffung eines Endlagers für hochradiaoaktiven Abfall sollen künftig „Zwischenlagerkapazitäten als Entsorgungsnachweis“ nach dem Atomgesetz gelten. Für die Übergangszeit bis zur direkten Endlagerung müßten dazu alle Länder mit Atommeilern solche Zwischenlager nach einem gemeinsamen Konzept schaffen, heißt es in dem ausgearbeiteten und mit Niedersachsen abgestimmten Konzern-Vorschlag. Da das niedersächsische AKW Stade nach dem Gesamtkonzept bald abgeschaltet werden soll und in den anderen AKW des Bundeslandes noch Zwischenlagerkapazitäten vorhanden sind, würde allerdings das Castor-Lager für abgebrannte Brennelemente erst einmal leer bleiben. Auf zahlreiche andere Bundesländer kämen bei einem solchen dezentralen Zwischenlagerkonzept sofort Standortdiskussionen zu.
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