■ Gastkommentar: Der Staat, eine Sandburg?
16 Tote, 18.000 Vorfälle rassistischer, fremdenfeindlicher und antisemitischer Ausprägung sind eine schwere Belastungsprobe für die bundesrepublikanische Demokratie. Inzwischen spricht aber einiges dafür, weniger vor dem Rechtsradikalismus und täglichen Rassismus Angst zu haben als vor einem Teil der Repräsentanten des Staates, die den Ausnahmezustand inszenieren wollen: Der Wesensgehalt des Asylrechts soll angetastet, das Belauschen in Wohnungen erlaubt, junge Rechtsradikale mit Höchststrafen abgeschreckt, das Haft- und Demonstrationsrecht sowie der Tatbestand des Landfriedensbruchs entschieden verschärft werden. Verfassungsschutz und Gauck-Behörde sollen neue Koordinierungsgruppen bilden und die rechtsradikale Szene ausleuchten. Und jetzt soll sogar der Radikalenerlaß für Rechtsradikale zum Schutz des öffentlichen Dienstes erneut aktiviert werden.
Den Radikalenerlaß aus dem Arsenal der staatlichen Verfolgungswerkzeuge hervorzuholen zeugt von kopfloser Politik und einem eher antidemokratischen Bewußtsein. Die Politiker, die sich jetzt für den Radikalenerlaß für Rechtsextremisten einsetzen, scheinen aus den unglückseligen Erfahrungen der Berufsverbotspraxis nichts, aber auch überhaupt nichts gelernt zu haben. Es schien Anfang der achtziger Jahre so, als ob alle Parteien den „Sündenfall der Berufsverbote“ erkannt hätten. Die absurde Unverhältnismäßigkeit der Mittel zur hochstilisierten Gefahr der „Unterwanderung des Staates“ hatte die demokratischen Grundlagen selbst in ihrer Substanz beschädigt. Willy Brandt hat mehrfach diesen fundamentalen Irrtum bedauert, zu dem er sich als Bundeskanzler 1971 hinreißen ließ.
Die Augenmaßlosigkeit und sterile Aufgeregtheit der Politiker hat Methode. Ihre Angst dokumentiert ein Demokratie- und Gesellschaftsverständnis, als ob diese Republik nur aus Sandburgen bestünde, die rasch einzustürzen drohen, und deshalb die „streitbare Demokratie“ nur mit der gnadenlosen Verfolgung ihrer „Feinde“ zu retten sei. Eine streitbare Demokratie schützt nicht zuvörderst den Staat. Wer so reagiert, kann kein ausgeprägtes demokratisches Selbstbewußtsein haben, traut dem staatlichen Verfolgungs- und Disziplinierungsarsenal alles – aber der mündigen Bürger- und Bürgerinnen-Auseinandersetzung nichts zu. Ja zur Bestrafung von Mördern, Brandstiftern und Grabschändern – aber nicht um den Preis eines inszenierten Ausnahmezustands, der dieser Demokratie mehr schadet als nützt, möglicherweise diejenigen in ihrem falschen rassistischen Heldentum noch bestärkt, die wir alle in die zivile Gesellschaft zurückholen sollten, soviel sie auch selbst für ihre eigene Ausgrenzung verantwortlich sind. Ein erneuter Radikalenerlaß ist nur der staatlich inszenierte Ausnahmezustand – und hat mit den realen Gefahren für diese Republik nichts zu tun. Nicht der Radikalenerlaß, nicht der Staat im Ausnahmezustand ist gefragt, sondern die tagtägliche Auseinandersetzung von mündigen Bürgerinnen und Bürgern über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, die zwar Ängste ernst nimmt, aber staatliche und polizeiliche Regelungen gegenüber einer positiven Vision einer wirklich multikulturellen Gesellschaft verdrängt. Ein Radikalenerlaß ist ein demokratischer Offenbarungseid in Serie.
Prof.Dr.Peter Grottian, Prof.Dr.Wolf-Dieter Narr
Die Autoren lehren Politische Wissenschaften an der FU Berlin.
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