■ Es knirscht im fabrikfrischen Politik-Getriebe Moskaus: Rußland übt den Kompromiß
Das Ende der Demokratie? Der Anfang der Normalität? Oder die Selbstregulation des Chaos – als russisches Spezifikum? Worin liegt das Wesen der Vorgänge rund um Jelzin und den Volksdeputiertenkongreß dieser Tage in Moskau? Jelzin ist nicht gestürzt, und das Volk trieb es nicht auf die Straße. Vom Bürgerkrieg reden immer nur die, die den Frieden gestalten sollen. Sie schaffen es nur durch den Rückzug auf Antonyme, ein russisches und sowjetisches Phänomen, das es bei Strafe der Banalität verbietet, einer Sache rational und ohne Brimborium in die Augen zu sehen. Überhänge der Vergangenheit, wie sie jede Gesellschaft auf ihre jeweilige Art mit sich herumschleppt. Jelzin wird auch weiterhin an der Spitze Rußlands stehen, doch ist er aus dem Kreislauf der Geschichte ausgebrochen. Das ist das vorläufige Ergebnis dieser zweiwöchigen Zirkusveranstaltung. Nicht erst mit seinem natürlichen Tod oder unter Gewalt wird er die Regierungsgeschäfte niederlegen, sondern im Rahmen einer demokratischen Wahl irgendwann... Dann...
Man darf nicht den Fehler begehen und meinen, das, was der Kongreß in concreto absondert, sei das Wesentliche. Auch wenn es manchmal haarscharf um die Macht geht. Das entscheidende sind die Mechanismen, die die Gewalten aufeinander einspielen. Zugegeben: Noch beschränkt es sich darauf, die Kampfhähne auseinanderzuhalten, und es knirscht verdammt im fabrikfrischen Getriebe. Aber dennoch üben sie eine neue Erfahrung ein. Politik mittels Kompromiß. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Zugeständnisse handelt, die dem aktuellen Lauf der Reformen hinderlich sind. Es geht ums Prinzip, in einer Gesellschaft, die nur in stereotypen Antipoden dachte und sich lieber einem universellen Messianismus verschrieb. Jetzt hat der Verfassungsrichter das Wort, obwohl es trocken ist, was die Russen überhaupt nicht mögen. Er ist der Gewinner dieses Kongresses und mit ihm Rußland.
Längerfristig wird man sich darauf einstellen müssen, daß auch Jelzin nur ein Übergangskandidat ist. Seine Hauptaufgabe besteht darin, die Reformen zu fundamentieren, damit sie irreversibel sind. Ein weites Stück sind er und seine Mannschaft vorangekommen – noch einmal erhalten sie die Möglichkeit, die Pfeiler weiter reinzutreiben. Gleichzeitig diversifiziert sich die Gesellschaft in einem rasanten Tempo, so daß zwangsläufig neue Interessengruppen entstehen, die ihre Lobbyisten auf ihre Fahnen heben. Ein ganz normaler Vorgang, der nicht beunruhigen muß, im Gegenteil, der eigentlich beabsichtigt war. Denn die reaktionäre Zusammensetzung des derzeitigen Parlamentes spiegelt nicht die tatsächlichen gesellschaftlichen Kräfte wider.
Jelzin will Rußland noch durch die Untiefen bringen, das dokumentiert das beinah pathologische Festhalten an seinem Wirtschaftsarchitekten Gaidar, der für ihn zum Synonym der Reform wurde. Als könnte das kein anderer leisten. Wenn die Spitze des Berges in Sicht ist, wird Jelzin sich zur Ruhe setzen müssen. Andere werden weitermachen, denn der Volksheld vom August 91 ist kein Präsident für normale Zeiten. Rußland ist am Anfang der Normalität. Klaus-Helge Donath, Moskau
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