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Village VoiceAlle Episoden in Schwarzweiß

■ God's Acre: „baby...“; Pigalle: „Regards Affligés“

Sie liegen schon eine ganze Weile auf dem Schreibtisch, denn sie zählen nicht zu jenen Platten, die in der ersten Begeisterung täglich abgespielt werden, nur, um dann ganz hinten im Regal zu verschwinden. Die Berliner Veröffentlichungen von God's Acre und Pigalle eignen sich eher, immer mal wieder gehört, ohne vergessen zu werden. Sie halten sich zurück, nicht zuletzt wegen ihrer dezenten Cover. Hinter dem mutierten Baby von God's Acre, einer zarten Aquarellzeichnung, läßt sich nur schwer dreckiger Hardcore-Blues vermuten. Peter Houpt, Brendan Burke und Mark Blade, drei langhaarige, unrasierte Männer, geben sich als ganze Kerls, die im hohen Alter nicht nur wie ZZ Top aussehen, sondern auch so spielen könnten. Aber noch erzählen sie in den vier Stücken auf „baby...“ die ganzen Legenden, von denen das Klischee des wilden amerikanischen Mannes lebt. Houpts vulgäres Organ verleiht den gitarrenschweren Blues- und Countryfiguren ein herzzerreißendes Übermaß jener Destruktivität, wie sie in Musikfilmen der Geschwindigkeitsrausch mit folgendem Selbstmord bildlich macht. Ausgegraben hat das Trio aus Chicago Michael Bulgrin. Seit 1988 publiziert seine Ein-Mann-Firma Angry Fish zwei, höchstens drei Platten im Jahr, auf denen allein Bulgrins persönlicher Geschmack Platz findet. In diesem kleinen Repertoire, das neben Alan Int. und Once upon a Time Exoten wie die finnischen Waltari führt, ist „baby...“ die zweite Veröffentlichung von God's Acre. Wenn Bulgrin mit der aktuellen 4-Track-CD für das Produkt von 1990 wirbt, ist das nicht verkehrt. „Ten Gospel Greats“, zehn programmatische Titel, sind das Äquivalent zum brachialen „baby...“. Unter der Regie von Produzent Iain Burgess machen sie die Themen von God's Acre schlicht sanfteren Seelen zugänglich.

Pigalle dagegen balancieren Aggressivität und Melancholie ohne Mühe auf einem Album aus. Doch ihr Cover führt ebenfalls in die Irre. Der Comic-Künstler Jacques Tardi, der u.a. Krimis von Malet zeichnete, hat die französische Gruppe in einer tristen Umgebung abgebildet, wo Messerstechereien an der Tagesordnung zu sein scheinen. Pigalle allerdings machen kurz vor dem Ernst halt und erzählen auf „Regards Affligés“ das Leben eines Pechvogels nur bis zu seinem Ende, das ein Geheimnis bleibt. Gleichzeitig konterkarieren sie das Vorurteil, Franzosen könnten keine Musik machen. Mit den Standards französischer Exportmusik, mit Violine, Flöten und natürlich mit Akkordeon machen sie aus dem Chanson rock indépendant und schrammen an manchen Stellen sogar knapp am baskischen Punk vorbei. Für Benjamins Erlebnisse suchten Pigalle klischeebesetzte Kulissen und Requisiten: In seiner Gefängniszelle liegt ein Buch von Apollinaire, Begegnungen finden in der bar du tabac statt, „Paris le soir“ heißt schließlich das letzte Stück, das endgültig sentimental stimmt. Zusammen mit den schrägen Stilbrüchen verhindert François Hadji-Lazaros kratzige Kehle jedoch, daß aus den wiegenden Rhythmen pure Rotwein-Seligkeit wird. Der dicke Sänger reiht schnöde eine Station in Benjamins Leben an die nächste, läßt Frauen kommen, läßt Frauen gehen. Es ist, als sähe man alle Episoden in Schwarzweiß vor sich: Auch die „Regards Affligés“ spielen mit einem Genre des Films. Im Programm des Vielklang-Labels, das angespannt auf Berliner Nachwuchs wartet und sich solange bunt und poppig gefällt, nehmen Pigalle eine Sonderstellung ein: „Regards Affligés“ sind zu traurig, um zu heulen, und zu schön, um zu lachen. Claudia Wahjudi

Angry Fish/AFM 008; Vielklang/ EFA 04056-08/26

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