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Das koloniale Monster ist tot, was tun?

■ Morgen wird die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) ein Jahr alt. Ob die Zweckgemeinschaft hält, hängt wesentlich vom Reformprozeß in Rußland ab. Den Weg in die Demokratie beobachtet

Das koloniale Monster ist tot, was tun?

Dezember 1991: Bis zum bitteren, aber sanften Ende des Sowjetimperiums versuchten seine kommunistischen Führer, den Dinosaurier noch gesundzubeten. Es half nichts, er ging den Weg alles Irdischen. Alsbald folgten unerfreuliche Diagnosen: Auch das Rumpfrußland wird eines Tages an seinen multinationalen Widersprüchen zerbrechen und den mühsam begonnenen Kurs gesellschaftlicher Erneuerung schon bald verlassen. Einzig und allein werden dieserart Betrachtungen von einer Gewißheit gestützt: Rußland ist anders, weit davon entfernt, ein ganz „normales“ Land zu werden.

Rußland, im Unterschied zu seinen ehemaligen Satellitenstaaten in Ostmitteleuropa, vollzog den Industrialisierungsprozeß erst unter der kommunistischen Herrschaft. Das macht die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft heute so kompliziert.

Mit dem Zusammenbruch des Riesenreiches stand das neue Rußland über Nacht vor den gleichen Problemen wie seine Vorgänger Sowjetimperium und Zarenreich. Nur in etwas kleinerem Maßstab. Gewaltige strukturelle Mißstände in der Wirtschaft, vernachlässigte Nationalitätenfragen, eine innere soziale Trägheit und der ungedeckte Wechsel auf die Großmachtrolle.

Seit vergangenem Jahr beherzigt die neue Generation im Kreml mal wieder Lenins Frage „Was tun?“. Praxisbezogen – im Gegensatz zu Gorbatschow – ging sie die Reformen an. Gewalt wurde nicht zum Instrument, um Ordnung zu schaffen. Das ist ein ungeheures Verdienst und dokumentiert die Ernsthaftigkeit des Reformprozesses wie auch die innere Bereitschaft der russischen Gesellschaft, sich darauf einzulassen. Kein Großreich zerfiel so friedfertig und ohne Blutvergießen wie das russische. Abgesehen von den blutigen Fehden in den Nachfolgestaaten der UdSSR.

Ein Indiz für den mentalen Paradigmenwechsel ist die erstaunliche Ruhe in der Gesellschaft, die den Reformprozeß das letzte Jahr über begleitete. Nach den ersten Reformschritten, die der Bevölkerung eine Reihe harter materieller Opfer abverlangte, ging die Zahl der Streiks im Vergleich zur Gorbatschow-Ära um das Sechsfache zurück. Ruhe vor dem Sturm oder die legendäre russische Leidensfähigkeit und Trägheit, wie es einige Kommentatoren begründen? Wohl kaum, denn unter der kommunistischen Ägide, die immerhin noch über gewisse Sanktionsmechanismen verfügte, wurde schließlich kräftig gestreikt. Auch in anderen Bereichen kann man einen deutlichen sozialpsychologischen Wandel feststellen. Bisher galt es als ein unwiderlegbares Axiom: Stalin hat die Bauernschaft ausgerottet. Die sowjetischen Landarbeiter sind von ihrem Boden entfremdet und fürchten das eigene unabhängige Wirtschaften.

Als im Oktober die Bewegung „Demokratisches Rußland“ eine Unterschriftensammlung vornahm, um ein Referendum über die Privatisierung von Land und Boden zu erzwingen, kamen binnen zehn Tagen zweieinhalb Millionen Unterschriften zusammen. In der Provinz wohlgemerkt, nicht in den eher demokratischen städtischen Zentren.

Die Realität hält dem Mythos des sozialistischen Tagelöhners, der sich lieber von seinem Sowchosvorsitzenden verwalten läßt, so nicht mehr stand. Gleichzeitig offenbarte sich darin noch etwas Erstaunliches: Seit anderthalb Jahrhunderten beherrscht das russische Geistesleben die Dichotomie zwischen Kräften, die sich nach Westen orientieren, den Westlern und den Slawophilen, die die Verkörperung der russischen Besonderheit in der Rückwärtsgewandheit des russischen Dorfes erblicken. Banal gesagt – ein Stadt- Land-Widerspruch. Der Schulterschluß zwischen russisch-nationalistischen Kräften, braunem Gesindel und alten Kommunisten versuchte nach dem mißlungenen Putsch im August 91, gerade daraus politisches Kapital zu schlagen. Diese Rechnung ist bisher nicht aufgegangen, wird eher immer unwahrscheinlicher.

Die russische Legislative, der Oberste Sowjet und der Volksdeputiertenkongreß, die in ihrer Zusammensetzung mehrheitlich mit konservativen Abgeordneten besetzt sind, hatten bis dato eine Landreform zu verhindern versucht. Nach der erfolgreichen Unterschriftensammlung kamen sie in ihrer Gesetzgebung dem Anliegen ein Stück entgegen, ohne allerdings eine flächendeckende Privatisierung zu novellieren. So schwach dieses Zeichen auch sein mag: vorsichtig stößt hier das zarte Pflänzchen einer Kompromißfindung, eines Interessenausgleiches durch den vereisten Boden. Eine Erscheinung, die die russische Politik bisher nicht kannte. Auch die Demokraten tun sich schwer mit der Handhabung demokratischer Umgangsformen.

Die Privatisierung, die der Reformarchitekt Gaidar seit Januar92 in Angriff genommen hat, stieß nicht auf die Vorbehalte, die noch Gorbatschow angeblich davon abhielten, mit dem wirtschaftlichen Umbau Ernst zu machen. Der Russe sei in seiner Mentalität ein Mensch, der in Solidargemeinschaften lebt und eher Gemeineigentum befürwortet. Untersuchungen der Russischen Akademie der Wissenschaften in Zusammenarbeit mit der Commonwealth Universität Virginia ergaben andere Ergebnisse. Von den 5.000 befragten Arbeitern, Ingenieuren und Fabrikdirektoren in verschiedenen industriellen Zentren befinden sich die Privatisierungsgegner in der klaren Minderheit. In einer vergleichenden Studie mit den USA gaben sich die Russen nicht abweisender gegenüber dem Markt als Amerikaner. Einkommensunterschieden stehen sie genauso gelassen gegenüber wie US- Bürger.

Die Reformen des letzten Jahres, unabhängig von ihrer Bewertung im Detail, sind so weit gediehen, daß sich ein Rückzug ohne schwere Verluste kaum bewerkstelligen läßt. Bereits heute arbeitet ein Fünftel der berufstätigen Bevölkerung im privaten Sektor. Die Sitzung des Volksdeputiertenkongresses im Dezember machte deutlich, inwieweit die konservative Deputiertenschaft an dem Gesamtprojekt Reform Anstoß nahm. Es geriet zu einem offenen Kräftemessen mit der Regierung und dem Präsidenten, der sich gezwungen sah, die Gallionsfigur Gaidar in seiner Eigenschaft als Premier zu opfern. Viktor Tschernomyrdin übernahm das Ruder als neuer Premier. Ein grauer Kandidat aus der kommunistischen Nomenklatura. Seit grauer Vorzeit Minister der Gas-und Ölbranche. Er konnte die Mehrheit der konservativen Stimmen auf sich vereinigen. Mit seiner Ernennung fand zunächst ein Tauziehen zwischen der zentristischen Opposition aus der „Bürgerunion“ um Vizepräsident Alexander Rutskoi und Industriellenlobbyist Arkadij Wolski ein vorübergehendes Ende. Die „konstruktive Opposition“, so ihre Selbsteinschätzung, forderte seit langem Regierungsbeteiligung. Ihre Protagonisten plädieren für einen schonenderen Gang der Reformen und reklamieren eine offensive Industriepolitik, um den Produktionsabfall zu stoppen.

Tschernomyrdin verfügte zunächst einen 200-Milliarden-Kredit an die Industrie. In der Woche nach seiner Ernennung gab es allerhand Spekulationen über die Besetzung des neuen Kabinetts. Gerüchte veranlaßten Jelzin sogar, vorzeitig von einer Chinareise zurückzukehren. Die neue Regierungsmannschaft ist im Kern die alte geblieben. Die Schlüsselministerien sind in den Händen der liberalen Reformer geblieben. Selbst Außenminister Kozyrew, dessen Kopf die Opposition ständig fordert, wurde auf seinem Posten bestätigt. Per Dekret ernannte Jelzin am Samstag den Radikalreformer Michail Poltaranin, zum Direktor des neugeschaffenen Informationszentrums der russischen Föderation.

Das Zentrum soll die Arbeit der Fernsehstationen, der Nachrichtenagenturen und Informationsdienste der Regierung überwachen. Poltaranin war im November zurückgetreten, seine Rückkehr ist typisch russisch.

Die Reformen werden weiterlaufen, nicht nur bis zum nächsten Volksdeputiertenkongreß im April. Seien wir gespannt, mit welchen Forderungen die Opposition dann aufwartet. Tschernomyrdin wird voraussichtlich nicht mehr der ihre sein.

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