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Nesthäkchen kommt ins KZ

■ Vor 60 Jahren wurde die Erfolgsschriftstellerin Else Ury nach Auschwitz deportiert / Neues Buch über die Konservative, die erst von den Nazis zur Jüdin gemacht wurde

Berlin. Im Lexikon der Weltliteratur sind ihre Bücher nicht verzeichnet, die großen Enzyklopädien Brockhaus oder Meyer erwähnen die Autorin mit keinem Wort: Else Ury, geboren 1877 in Berlin, und gestern vor 60 Jahren mit dem Transport namens „Welle XL“ unter der Nummer 638 nach Auschwitz deportiert. Am 6. Januar 1943 findet sie sich in der „Sammelstelle“ in der Großen Hamburger Straße ein, am 12. Januar verläßt der Deportationszug den Bahnhof Grunewald. In Auschwitz wird sie nicht als Häftling registriert. Entweder starb sie schon auf dem Transport oder wurde direkt von der Rampe in die Gaskammer getrieben.

„Nesthäkchen kommt ins KZ“, so lautet der Titel der einzigen Biographie, die es über Else Ury gibt, ein Titel, der den Atem stocken läßt. Denn Nesthäkchen, diese deutschtümelnde Schnulze, diese Propaganda für Krieg, Kaiser und eine von Gott gefügte Ordnung, soll von einer Jüdin geschrieben worden sein? Die Autorin ausgegrenzt und ermordet von Faschisten, deren Erfolg sie 1933 noch mit Sympathie beobachtet hat?

Ihre Bücher erreichten sowohl in der Weimarer Republik als auch in den restaurativen fünfziger Jahren eine Millionenauflage. Derzeit bereitet der Hoch Verlag eine Gesamtausgabe für die neuen Bundesländer vor. In der DDR erschienen ihre Werke nämlich nie. Dabei lachten und weinten ganze Generationen mit „Nesthäkchen“, dem „Wildfang“, der zum „Backfisch“ wurde, dann zur treusorgenden Gattin und liebevollen Mutter und schließlich zur weißhaarigen Großmutter, umringt von einer Schar Enkelkinder, denen sie die urdeutschen Werte Ordnung, Pflicht, Sparsamkeit, Treue, Pünktlichkeit und Liebe zu Volk und Vaterland weitergibt.

„Nesthäkchen“, der Name dieser zwischen 1920 und 1925 geschriebenen Buchreihe, steht für Kitsch und für ein Gesellschaftsmodell, in der alles so bleiben soll, wie es immer war: Die da oben werden es schon richten. Das Glück besteht in der Anpassung an bürgerliche Tugendhaftigkeit.

Daß Else Ury jüdisch war, weiß heute fast keiner mehr, wußte auch niemand in den zwanziger Jahren. Weder in den zehn Nesthäkchen- Bänden noch in ihren weiteren 29 Büchern tauchen die Wörter „Jude“ oder „Antisemitismus“ auch nur ein einziges Mal auf, nirgends der Hinweis, daß es in Berlin ein jüdisches Leben gab. Else Ury war national, kaisertreu, Jüdin durch Geburt, der Religion und Tradition entfremdet. Ihr „Nesthäkchen“ ist goldblond, und die blauen Augen strahlen im Kerzenschein des christlichen Weihnachtsbaums. „55 Jahre war Else Ury eine Deutsche“, schreibt Marianne Brentzel, „dann wurde sie zur Jüdin gemacht.“ Und hätte sie gekonnt, dann wäre sie sogar Nationalsozialistin geworden.

Ihr letztes Buch, 1933 geschrieben, trägt den programmatischen Titel „Jugend voraus“. Da wimmelt es von „deutschen Frauen“, die Ferienarbeit der Kinder wird zur „Vaterlandsverteidigung“, die Bauern werden zum Bauernstand, die Erde zur „Scholle“. Und begeistert feiern alle den 1. Mai 1933, den „Tag der nationalen Arbeit“, den Freudentag.

Else Ury bleibt auch in Berlin, als Freunde und Verwandte ins Exil gehen, ihr Bruder Hans sich in der gemeinsamen Wohnung aus Verzweiflung über Berufsverbot und Ausgrenzung das Leben nimmt. Sie bleibt, obwohl sie aus ihrer Wohnung am Kaiserdamm24 vertrieben wird und in Moabit in der Solinger Straße 12 in einem „Judenhaus“ leben muß. Sie bleibt, obwohl sie aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen wird und sich auf keine Parkbank mehr setzen darf. Sie fährt 1938 für eine Woche nach London und kommt sogar zurück, um in Berlin zu erleben, daß sie den Namen Sara erhält und ihr großes Vermögen beschlagnahmt wird. Ihre Demut und Leidensbereitschaft sind unerklärlich. 60.000 Berliner Juden treibt es aus der Stadt, und sie kommt zurück, obwohl sie zu den Privilegierten gehört. Auch ihre Biographin versteht es nicht, vielleicht, so vermutet sie, wollte Else Ury ihre 91jährige Mutter nicht verlassen. Aber auch sie hätte emigrieren können, an Geld mangelte es bis 1938 nicht. Die Biographie über Else Ury läßt viele Fragen offen, weil es außer ihrem schriftstellerischen Nachlaß, einigen Briefen und der Deportationsakte nichts von und über sie gibt. Marianne Brentzel hat, außer einem in London lebenden Neffen, keinen einzigen Menschen gefunden, der sich an Else Ury erinnert.

Auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee steht ein Gedenkstein für sie. „Geb. in Berlin am 1. Nov. 1877 deportiert von Berlin 12. Jan. 1943 und nicht zurückgekehrt“, ist darauf eingemeißelt. Gestern legte der Regierende Bürgermeister Diepgen dort einen Kranz nieder. Kultursenator Roloff-Momin hat vorgeschlagen, am Haus Solinger Straße 12 eine Gedenktafel anzubringen. Die wäre an ihrem Geburtshaus, Kantstraße 30, besser aufgehoben, denn Jüdin war Else Ury nur, weil die Nazis sie dazu erklärten. Ihre Liebe zu Deutschland wurde mit dem Tod bestraft. Anita Kugler

Am 21. Januar wird Marianne Brentzel die Biographie „Nesthäkchen kommt ins KZ“ (Edition Ebersbach, Zürich, 38 Mark) in der Jüdischen Volkshochschule, Fasanenstraße, am 25.1. in der Humboldt-Universität vorstellen.

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