: Den König töten
■ Wie das deutsche Bürgertum um Ludwig XVI., der vor zweihundert Jahren enthauptet wurde, Tränen zu vergießen lernte
Als er starb, verdunkelte sich nicht der Himmel und zerriß nicht der Vorhang im Opernhaus von oben nach unten. Keine überirdische Macht ließ ihren Zorn über das Ungeheuerliche aus. Viele Menschen haben sich vielleicht weniger über göttliche Zeichen als über ihr Ausbleiben gewundert.
Aber natürlich blieb die mystische Verklärung des Todes des „Königs der Franzosen“ nicht aus. Ein royalistischer Augenzeuge beschrieb den Tod seines Idols so: „Ohne mich von der Stelle zu rühren, hatte ich unverwandt mit angesehen, wie einer der Henker dem erlauchten Opfer die Haare abschnitt; doch das Haupt meines Königs sah ich nicht mehr unter dem Beile zu Boden fallen. Ein Lichtstrahl blendete mich und verwandelte den Augenblick des Opfers in eine himmlische Erscheinung. Ich hörte weder, was der Henker sagte, während er dem Volk den Kopf zeigte, noch den unseligen Schrei des Triumphes, der, wie man mir versicherte, unwillkürlich das andächtige und bedrückte Schweigen zerriß.“
Ein deutscher Künstler, Johann Gerhard Huck, gestaltete die Schafottszene gar als Andachtsbild. Bei ihm wurde Ludwig zum verurteilten Christus, den Pilatus dem jubelnden Mob vorführt: „Ecce homo!“
Es wäre zu einfach, in dieser Parallelisierung von Ludwig XVI. und Christus und in dieser Überfrachtung mit Symbolen Propagandamanöver zu sehen. Von einer gesteuerten gegenrevolutionären Kampagne kann keine Rede sein. Zwar saßen die geflüchteten Adeligen an sicheren Plätzen im Ausland, und sie hatten erfolgreich auf einen europäischen Krieg gegen die französische Republik gedrängt; willkommen waren sie allenfalls in England.
In Deutschland besaßen sie einen überaus schlechten Ruf. Wenn nicht die politischen Interessen der Emigrierten und Regierenden Mitleidsgefühl schürten – was bewog die Deutschen dann zu ihrer tränenreichen Kollektivtrauer?
Bis zum 10. August 1792 war die Revolution im Nachbarland von ihnen durchaus günstig beurteilt worden. Klopstock seufzte: „Sie – und nicht wir!“ und traf damit den Nagel auf den Kopf. Von den Unterschichten bis in die aufgeklärten Adelskreise hinein grassierte dieselbe Unzufriedenheit mit den „gotischen“ Lebensverhältnissen wie in Frankreich. Gleichzeitig hegten nur wenige Hoffnung auf Veränderungen. Von einigen lokalen Aufständen abgesehen, verhielten sich die Deutschen ruhig und grüßten nach Paris: „Hannemann, geh du voran!“ Wenn dort die Revolution glückte, sprang vielleicht auch eine Reform für Deutschland dabei heraus.
Als sich nach der vereitelten Flucht der königlichen Familie nach Varennes 1791 die Verhältnisse zuspitzten, geriet die Revolution hierzulande zunehmend in Mißkredit. Militanz war dem Bürgertum abhold, das sich allabendlich hinter verriegelten Stadttoren verschanzte. In Paris dagegen gewannen die SansculottInnen an Einfluß. Das Bild eines dieser bons citoyens zeigt einen besonnenen Kleinbürger vor dem Kamin sitzend, über dem eine Pike hängt. Am Tag des Sturms auf die Tuilerien stürzten solche „Pikenmänner“ gemeinsam mit Einheiten der Nationalgarde die Monarchie, die nur noch von Schweizergarden und ultrakonservativen Aristokraten verteidigt wurde. Dieses Gemetzel um ein leeres Gebäude – die königliche Familie hatte im Nationalkonvent Asyl erhalten – desillusionierte das deutsche Bürgertum. Es glaubte zu sehen, daß die unausbleibliche Folge einer Revolution die ungezügelte Gewalt des „Pöbels“ sei. Bestätigt schienen die Befürchtungen durch die Septembrisaden: drei Wochen nach dem Tuilerien-Sturm wurden in den Pariser Gefängnissen über tausend Häftlinge von Sansculotten in einem Blutrausch getötet, ohne daß die Regierung einschritt. Erklärlich – nicht entschuldbar – sind die Septembrisaden mit einer Panikstimmung. Denn mittlerweile war der Revolutionskrieg ausgebrochen, und deutsche Truppen marschierten Richtung Paris. In dieser höchsten Gefahr wurden die Häftlinge als fünfte Kolonne des Koalitionsheeres angesehen. Einen Tag bevor am 21. September die Republik ausgerufen wurde, war das preußisch-österreichische Heer bei Valmy (ohne daß es irgend jemand bemerkte) geschlagen worden.
Zwar war die Revolution nun vorläufig gesichert, ihre Sympathien aber waren weitgehend verspielt. Doch ihre Ablehnung ließ sich noch steigern, und sie erfuhr ihren Höhepunkt in der Hinrichtung des Königs.
Der Prozeß gegen den Bürger „Louis Capet“ wurde aufmerksam, aber wenig emotional verfolgt. Seine Regentschaft hatte ihm wenig Ruhm eingebracht. Er galt als wankelmütiger Monarch, dessen guter Wille zu manchen Reförmchen nicht ankam gegen Hofkabale und eine schlecht beleumundete Ehefrau. Sein Tod erst verklärte ihn; unumwunden heißt es im 1793 gedruckten konterrevolutionären „Revolutions-Almanach“, daß Ludwigs Tod politisch bedeutsamer gewesen sei als seine Handlungen. „Den König töten: Das ist für die meisten Franzosen dieser Zeit weit schlimmer als der Mord an einem Menschen. Es bedeutet, das Bild zu zerstören, das sich auf den kleinen Geldstücken befindet, die man täglich in der Tasche mit sich herumträgt; es bedeutet, eine Institution zu vernichten, die dem nationalen Leben so integriert ist wie das Gold dem Taler.“ (Pierre Gascar)
Auf „Königsmord“ stand in Frankreich die grausamste Todesstrafe: das Vierteilen. Und in der Erinnerung noch lebendig waren das Attentat auf Heinrich IV. 1610 und die Enthauptung des englischen Königs Charles I. 1649. Mit beiden Fällen ließ sich Ludwig nicht vergleichen. Es schockierte, daß ein Volk sich anmaßte, im Namen des natürlichen Rechts an seinem König Rache zu üben dafür, daß es jahrhundertelang seiner Souveränität beraubt war. Nicht wegen irgendwelcher Taten, sondern wegen seines Standes war Ludwig für schuldig befunden worden.
Diese Auffassung stellte die deutsche Untertanentreue in Frage. Während das Attentat auf den Schwedenkönig Gustav III. im Vorjahr bedauernd registriert wurde, streuten nun Flugschriften „Blumen auf das Grab Ludwigs XVI.“, zeigten Grafiken seine Ankunft im Elysium und sandten Gedichte, gereimte Fürbitten, in den Himmel. Dutzende von illustrierten Flugblättern wiederholten die skandalöse Schafottszene. Als sei dieser Augenblick ein geschichtlicher Angelpunkt, wurde er wieder und wieder fixiert. Im Grunde war dieses Bestreben paradox, weil die Guillotine durch ihre Schnelligkeit das Zeitempfinden aus dem Hinrichtungsritual entfernt hatte. Im merkwürdigen Kontrast zur ihm gewidmeten Hingabe steht das Image, das von ihm entstand. Auf allen diesen Bildern war der König kein antiker Heldentyp. Von den Anspielungen an Christus erhielt sich nur der religiös-moralisierende Ton, die Gestalt des gesalbten Übervaters schrumpfte zum Bürger, den unschuldig ein grausamels Schicksal ereilt. Ludwig wurde zu einem zweiten Jean Calas, dessen Justizmord im Ancien régime von Voltaire gebrandmarkt wurde.
Calas' Geschichte, in Deutschland durch einen Kupferstich von Daniel Chodowiecki verbreitet, rührte die deutsche Öffentlichkeit ebenso zu Tränen wie das Ende von „Louis Capet“. Seine nach dem Sturz vom Thron durchgesetzte Verwandlung in einen Bürger war im Kontext von Calas neu aufgegriffen worden. Mit dieser kollektiven Gefühlsaufwallung verband sich nicht nur eine verstärkte Ablehnung der Revolution, vielmehr bedeutete sie den Ausgangspunkt zu einem neuen Verhältnis zwischen Untertanen und Regierenden. Die Regierenden erhielten ein Privatleben, sie wurden quasi zu bürgerlichen Musterfamilien, in Wort und Bild waren sie im Volk präsent. Politisches Kapital wurde aus dieser Gefühlsbindung erst sehr viel später geschlagen.
Christoph Danelzik
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