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Wiedersehen mit alten Bekannten

■ Hunderttausende erinnerten auf zwei Demonstrationszügen und einer Lichterspur an die Machtübergabe an Hitler vor sechzig Jahren / Selbstdarstellung kommunistischer Splittergruppen

Berlin. In dem leuchtenden Gewimmel von Zigtausenden um das Brandenburger Tor herum fielen Plakate auf, bei einer Lichterspur ungewöhnliche Accessoires. „Aktives Gedenken statt großdeutsche Gedanken“ stand auf einem zu lesen, auf einem anderen „In Bonn sitzen die Brandstifter“. Die Plakate waren der Beweis, daß doch nicht alle Demonstranten, die einige Stunden zuvor am Zug vom Gestapo-Gelände zum Bebelplatz und der anderthalbstündigen Kundgebung teilgenommen hatten, erfroren waren.

Die Demonstration am Samstag nachmittag, unterstützt von mindestens 60 antifaschistischen und antirassistischen Initiativen, aber auch vom DGB, der SPD und der Jüdischen Gemeinde, schien, als ob die Zeit in die achtziger Jahre zurückgedreht wäre. Statt den Massen kamen höchstens 6.000, wenige Familien mit Kindern, dafür viele 20jährige Revolutionäre von kommunistischen Gruppen und Grüppchen. „Der Arbeiterbund für den „Wiederaufbau der KPD“ war dabei, dahinter die KPD/ML die schon aufgebaut ist, und natürlich auch die Spartakisten von der IV. Internationale und die Maoisten von der TKP/ ML. Auch die MLPD-Genossen waren präsent und verteilten Flugblätter mit einem Bündnisangebot an die in einem eigenen Block marschierenden PDS-Mitglieder. Um bei der Bundestagswahl 1994 nicht gemeinsam, aber doch getrennt an der Fünfprozenthürde zu scheitern, sollte man doch „trotz aller grundsätzlichen Differenzen“ auf einer Liste kandidieren. Und präsent war auch das trotzkistische „Komitee für soziale Verteidigung“. Sie forderten die „Arbeiter, Immigranten und Antifaschisten“ auf, im Anschluß an die Kundgebung „Asylbewerberwohnheime zu verteidigen“. Die Szene war so gut wie nicht zu sehen, und die, die wie Autonome wirkten, waren keine, sondern die Gruppe „Jugend gegen Rassismus in Europa“ in der PDS. „Höchst merkwürdig“, sagte ein demonstrationsgeübter Hausbesetzer aus Friedrichshain, „ich kenne hier keinen.“

Im Gegensatz zur Demonstration beherrschten bei der anschließenden Kundgebung am Bebelplatz die vielen nicht parteilich gebundenen Redner das Podium. Scharfe Kritik an der Bundesrepublik übte Eduard Bamberger, stellvertretender Vorsitzender der Roma- und Sinti-Union. „1993 ist nicht 1933“, erklärte er, „aber die Bilder von Rostock seien nicht zu trennen von den Bildern, die wir aus dem Nationalsozialismus kennen.“ Durch die Debatte um die Änderung des Asylparagraphen hätten die Politiker den rechtsradikalen Gruppen signalisiert, daß ihren Forderungen nachgegeben wird. Als einer der letzten Redner trat Andreas Nachama von der Jüdischen Gemeinde ans Mikrophon. Als er sprach, hatte sich der Platz bis auf etwa 500 Menschen geleert. Nicht der Rechtsradikalismus sei die Hauptsorge der Gemeinde, denn er sei einzugrenzen, sondern die Gefahr sei der „Rechtsruck“ bundesdeutscher Politik insgesamt. „Die Angst, die viele Juden heute haben, kann nur von der Mehrheitsgesellschaft weggenommen werden“, sagte er. „Wenn es eine Lehre aus 1933 zu ziehen gilt, dann nur die: ,Die Bürgerrechtsbewegung stärken‘.“

Sehr viel mehr Menschen als am Samstag zum Bebelplatz kamen am Vorabend zur PDS-Kundgebung in den Lustgarten. Unter den etwa 15.000 überwogen Veteranen, die wie der Redner Stephan Hermlin die Nazidiktatur im Moskauer Exil verbrachten. Die wichtigste Lehre aus den vielen Lehren von 1933 sei, „das Verbindende über das Trennende zu stellen“, sagte er. Die moderate Rede muß der Vertreter der „russischen Werktätigen“ nicht ganz verstanden haben. Er geißelte die „faschistischen Tendenzen“, gesteuert von der „profitgierigen Bourgeoisie“, die nur eine Partei bekämpfen kann. Nämlich die „kommunistische Partei“, gefestigt durch die „internationale Solidarität“. Da klatschten selbst die PDSler nicht. Anita Kugler

Siehe auch Bericht auf Seite 5

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