: Die tägliche Dosis gegen Schulstreß
■ Eltern und Ärzte verordnen Kindern Schmerztabletten und Psychopharmaka, statt ihren Problemen auf den Grund zu gehen / Oft beginnt die Sucht mit rezeptfreien Mitteln aus der Apotheke um die Ecke
„Wenn ich lange vorm ,Nintendo‘ sitze, hab ich abends so'n richtigen Dröhnschädel. Dann nehm ich ne Aspirin, und dann geht das wieder weg“, erzählt der elfjährige Sven. Svens Bericht ist in der sechsten Klasse der Osdorfer Gesamtschule eher eine Ausnahmeerscheinung. Anders sieht es bei den Älteren aus: „Du brauchst nur sagen, du brauchst das für die Schule, dann verschreibt dir der Arzt alles, was du willst, auch so richtig starke Dinger“, sagt die 16jährige Janina.
Der Medikamentenkonsum von Kindern ist ein undurchsichtiges Feld. Ein Blick in die Verschreibungsstatistik bestätigt zwar, daß die Abgabe etwa von Psychopharmaka an Kinder in den letzten Jahren stark zurückgegangen ist. Doch dies ist vielleicht nur die eine Seite der Entwicklung. Auf der anderen Seite steht der massenhafte Konsum von nicht verschreibungspflichtigen Mitteln, die, so der Pharmakologe Dr. Gerd Glaeske, als „Psychopharmaka der Selbstmedikation“ eingesetzt werden.
Nach einer Untersuchung der Gesamthochschule Wuppertal klagt jedes fünfte Kind regelmäßig über Kopfschmerzen und nimmt ebenso regelmäßig Schmerztabletten ein. Äußerst bedenklich ist eine neue Kreation aus dem Hause Bayer-Leverkusen, „Aspirin direkt“, eine Kautablette, die überall, ohne Wasser eingenommen werden kann. Da sie angenehm nach Zitrone schmeckt, können gerade Kinder und Jugendliche darüber hinweggetäuscht werden, daß sie ein Arzneimittel schlucken.
Leistungsdruck, Lärm, Luftverschmutzung, Bewegungsmangel, Computerspiele und Fernsehen — die Liste der Dinge, die Kindern Kopfschmerzen bereiten, ist lang. Sehr unterschiedlich wird darauf aber zum Beispiel in den Schulen reagiert. Manche Kinder werden von Lehrern ins Sekretariat geschickt, um sich eine Schmerztablette abzuholen, andere werden lieber gleich nach Hause entlassen. Nur wenige Lehrer bieten den Kleinen gesunde Alternativen: Entspannungsübungen oder die Möglichkeit, sich an der Luft auszutoben.
Einige Kinder reagieren auf Streß und Spannungszustände mit Schmerzen, andere mit motorischer Unruhe. Vor diesem Hintergrund ist die steil ansteigende Ver-
1schreibungszahl des Psychopharmakons „Ritalin“ besonders kritisch. An sich ist es ein Aufputschmittel, bei manchen Kindern hat es aber eine sogenannte paradoxe Wirkung: es putscht nicht auf, sondern beruhigt. Ritalin darf nur auf einem besonderem Betäubungsmittelrezept der Bundesopiumstelle ver-
1schrieben werden. Denn es erfreute sich als „Lovely Rita“ in der Drogenszene lange Zeit großer Beliebtheit.
Vor dem Dealer auf dem Schulhof haben alle Eltern Angst. Doch Sucht beginnt oft sehr viel banaler — mit rezeptfreien Mitteln aus der Apotheke um die Ecke. ötm
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