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Präzedenzfall im Tempo-30-Streit

■ Verwaltungsgericht: Senator muß Tempo-30-Schild wieder anbringen/ Verwaltung beachtete Unfallentwicklung nicht

Berlin. Juristische Ohrfeige für Verkehrssenator Herwig Haase (CDU): In einem ersten umstrittenen Fall hat das Verwaltungsgericht die Aufhebung von Tempo 30 als „ermessensfehlerhaft“ bewertet. Das Gericht gab den klagenden Anwohnern der Sundgauer Straße in Zehlendorf vorläufig recht und hat dem Antrag auf aufschiebende Wirkung stattgegeben – die Verkehrsverwaltung muß nun die bereits entfernten Tempo-30-Schilder wieder anbringen. In dem noch folgenden Hauptverfahren räumt das Gericht den Klägern „eine überwiegende Aussicht auf Erfolg ein“. Die Anwaltskanzlei Gaßner, Groth und Siederer, die die Klage führt, bezeichnete die Entscheidung gestern als Präzedenzfall. Sozius Stefan Klinski zur taz: „In allen Straßen mit positiver Unfallentwicklung können Anwohner höchstwahrscheinlich durchsetzen, daß die Tempo-30- Regelung beibehalten wird.“

Das Gericht folgte bei seiner Entscheidung der Argumentation der Kläger. Durch die Aufhebung der reduzierten Geschwindigkeit seien die Betroffenen in ihrem vom Grundgesetz verbrieften Recht auf „Schutz vor gesundheitlichen Beeinträchtigungen verletzt“. Die Beeinträchtigungen entstünden bei erhöhtem Tempo durch zusätzlichen Lärm und vermehrte Abgase sowie durch eine erhöhte Unfallgefahr. Die Verkehrsverwaltung habe nur dann das Recht, die 1990 eingeführte Regelung rückgängig zu machen, wenn sich die Situation seither verändert habe, was allerdings nicht gegeben sei.

Die Aufhebung von Tempo 30 sei „ermessensfehlerhaft“, weil allein das hohe Aufkommen der täglich 12.000 Kraftfahrzeuge berücksichtigt worden sei. Positive Aspekte, wie die fallende Zahl von Unfällen, habe die Verwaltung dagegen nicht beachtet. Auch sei die Behauptung der Verkehrsverwaltung „sehr zweifelhaft“, daß der Vorgängersenat die Verkehrsberuhigung „rechtswidrig“ eingeführt habe. Die Verwaltung habe ihre These nicht näher belegt. Aber auch ansonsten sei nicht ersichtlich, daß die nach der Straßenverkehrsordnung (StVO) erteilte Anordnung von Tempo 30 zu anderen Zwecken als dem Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen erfolgte.

Klinski kündigte gestern weitere Klagen für die Beibehaltung von Tempo 30 in der Xantener Straße (Wilmersdorf) und in der Akazienstraße (Schöneberg) an. Schönebergs Baustadträtin Sabine Ritter (AL), die AL-Schöneberg, der BUND und die BI-Akazie begrüßten gestern die Entscheidung. Der BUND ruft alle Anwohner auf, nach dem Entfernen von Tempo-30-Schildern beim Verwaltungsgericht Antrag auf aufschiebende Wirkung zu stellen.

Gegen die Entscheidung wird die Verkehrsverwaltung Beschwerde einlegen, sagte gestern Sprecher Tomas Spahn der taz. Wenn das Gericht dem Antrag der Verwaltung nicht folgen sollte, „haben wir ein Problem“. Dirk Wildt

Nächstes Treffen Koordinationskreis Tempo 30 (Tel.: 7841758), Donnerstag, 18. Feb., 20 Uhr, Rathaus Schöneberg, Raum 042

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