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Gegen die "Eiszeit der Mitmenschlichkeit"

■ Behinderte präsentieren sich auf der Hamburger Reisemesse den Veranstaltern als selbstbewußte Kundengruppe

präsentieren sich auf der Hamburger Reisemesse den Veranstaltern als selbstbewußte Kundengruppe

Der 53jährige Horst Fleckenstein bringt es auf den Punkt: „Nicht unsere Behinderung behindert uns, sondern die Behinderungen, auf die wir stoßen.“ Der Wirtschaftswissenschaftler leidet an

1Muskelschwund und ist auf den Rollstuhl angewiesen. Auf Reisen möchte er deshalb nicht verzichten. Daß Behinderte nicht vom Reisen ausgeschlossen sein müssen, sich sogar an sportlichen Aktivitä-

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7ten beteiligen können, das bewies am Donnerstag der Aktionstag für Behinderte auf der Hamburger Reise-Messe „Reisen '93“.

„Eiszeit der Mitmenschlichkeit — nein danke“: unter diesem Motto diskutierten Vertreter der Bundesarbeitsgemeinschaft Club der Behinderten (BAGCB), Vertreter von Behörden, Reiseveranstaltern und Automobilfirmen vor dem Hintergrund des Flensburger Urteils. Im vergangenen Jahr hatte dort ein Gericht Reisenden eine Entschädigung zugesprochen, weil sie in einem Hotelrestaurant zusammen mit geistig Behinderten essen mußten. Für viele Behinderte ist dieses Urteil nicht repräsentativ für das Verhalten der meisten Deutschen. „Wir haben keine schlechten Erfahrungen gemacht“, war die einmütige Antwort der meist körperlich beeinträchtigten Messebesucher. Aber klar ist für viele auch, daß geistig behinderte Menschen „die schwächsten sind“, da sie der Diskriminierung wehrlos ausgesetzt sind. „Außer den Behinderten-Verbänden haben sie kein Forum, das für sie spricht“, beklagt Birgit Heinrich, Behinderten-Beauftragte bei der Kölner Oberpostdirektion und stellvertretende Vorsitzende der BAGCB.

„Die größte Hemmschwelle sind oft aber auch die Behinderten selbst, denn viele trauen sich nichts zu“, meint sie. Doch das muß nicht so sein: Brigit Heinrich hat sich das auf etlichen Fernreisen selbst bewiesen. Parasailing in Mexiko, Tauchen und Schnorcheln auf den Malediven, Last-Minute-Buchen: „Alles kein Problem. Es geht, wenn man nur will“, berichtet sie. Natürlich sei die Planung mühsam, „aber es lohnt sich“.

Dieser Meinung ist auch Mark Armbruster, der ebenfalls an fortschreitendem Muskelschwund leidet. „Die Checkliste vorher ist das kleinste Problem. Aber wirklich verlassen bin ich, wenn ich mich auf die Aussagen der Reiseveranstalter verlasse“, kritisiert er die mangelhaften Informationen in Katalogen und Prospekten. Der 73jährige pensionierte Arzt Hans- Claus K., der aufgrund einer Gehbehinderung zunehmend auf den Rollstuhl angewiesen ist, beklagt, daß das Fahren mit der Eisenbahn fast unmöglich ist: „Da hat man im ICE behindertengerechte Toiletten eingebaut, aber daß man mit dem Rollstuhl auch durch die Gänge fahren kann — daran haben die Konstrukteure nicht gedacht.“

Immer mehr Reiseveranstalter gehen inzwischen verstärkt auf die Bedürfnisse der Behinderten ein und bieten rollstuhlgerechte Unterkünfte und Transportmöglichkeiten an. Birgit Heinrich: „Der Markt wächst im Zuge der wachsenden Selbstbestimmung der Behinderten“. dpa

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