: "Schuldig - ich beantrage Freispruch"
■ Überraschendes im Plattenleger-Prozeß: Staatsanwältin will Freispruch / Gericht habe Wahrheitsfindung verhindert
: Staatsanwältin will Freispruch / Gericht habe Wahrheitsfindung verhindert
Es war wohl das kürzeste und ungewöhnlichste Plädoyer, daß jemals vor einer Schwurgerichtskammer gehalten wurde. Nach nur zehnminütiger Ansprache beantragte gestern die Staatsanwältin Heike Roitsch von Almeloe im Itzehoer Landgerichtsprozeß gegen die beiden Rote-Flora-Sympathisanten Knud Andresen und Ralf Gauger einen Freispruch. Obwohl die Anklägerin betonte, daß sie „felsenfest“ davon überzeugt sei, „daß die beiden die Tat begangen haben“, sei sie gezwungen worden, gegen ihre Überzeugung keinen Schuldspruch zu beantragen.
In ihrem Plädoyer attackierte die aufgebrachte Anklägerin den vorsitzenden Richter Manfred Selbmann scharf. In den 56 Prozeßtagen habe sie sich immer wieder durch die Kammer in der „Wahrnehmung ihrer Rechte behindert gefühlt“. Die Staatsanwaltschaft sei „im Gericht niedergebrüllt worden, ohne daß das Gericht eingeschritten“ sei. „Der Prozeß ist zur Farce geworden“, beklagte Roitsch.
Gauger und Andresen waren von der Staatsanwältin wegen Mordversuchs angeklagt worden, weil sie am 29. Juli 1991 in Pinneberg Betonplatten auf Bundesbahngleise gelegt haben sollen. Vier Hamburger Staatsschützer wollen das Duo dabei beobachtet haben. Vor Gericht hatten sich die Polizisten in erhebliche Widersprüche verwickelt und waren offenkundiger Falschaussagen überführt worden. Die beiden Beschuldigten hatten die Anschuldigungen stets als „Staatsschutzlügen“ bezeichnet.
Auch hatte sich erwiesen, daß die damalige Observation rechtswidrig war. Im Januar war die Anklage vollends zusammengebrochen, als Gauger und Andresen einen Alibizeugen präsentierten. Der bestätigte, daß die beiden zum Tatzeitpunkt 1000 Meter vom Tatort entfernt gewesen waren. Aufgrund dieses Alibis hatte das Gericht kürzlich einen Freispruch in Aussicht gestellt.
1Roitsch von Almeloe bekräftigte jedoch, daß gegen die beiden Angeklagten, die sechs Monate in Untersuchunghaft verbringen mußten, „völlig zu Recht Anklage erhoben worden“ sei. „Ein Freispruch ist ein krasses Fehlurteil“, so die Staatsanwältin.
1Den fünf Richtern warf die Anklägerin eine indirekte Komplizenschaft vor. Die Richter müßten es mit ihrem „Gewissen vereinbaren“, an einem Unrechtsurteil beteiligt zu sein. Das Gericht wolle aber seiner „Aufklärungspflicht“ offenbar nicht mehr nachkommen. Es habe mehrfach Beweisanträge der Anklage — so den beantragten Ortstermin — abgelehnt. Almeloe: „Ich bin daran gehindert worden, einen Schuldspruch zu beantragen.“ Die Verteidigung zeigte sich über den emotionalen Auftritt verblüfft. Auf der Richterbank herrschte einmütig fassungsloses Kopfschütteln.
Am kommenden Monatg werden die Anwälte plädieren. Innensenator Werner Hackmann lehnte es gestern ab, die überraschende Wende in dem Verfahren zu kommentieren. Die GAL-Fraktion will am Mittwoch in der Aktuellen Stunde der Bürgerschaft die Rolle des Staatsschutzes in diesem Verfahren debattieren. Außerdem wollen die Grünen einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß beantragen, der sich mit diesem „Polizeiskandal“ befassen und in dem die „Falschaussagen der Staatsschützer“ sowie die „Manipulationen an den Observationsakten“ aufgearbeitet werden sollen. Kai von Appen
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