: Lese-Premieren als Droge
Ortsbesichtigung: Der „Buchhändlerkeller“ in der Carmerstraße ■ Von Stefan Bruns
Seit 25 Jahren spielt im Literaturbetrieb Berlins ein Kellerkind in der ersten Liga. Evident ist der Aufstieg, seit man ins Parterre der Carmerstraße 1 gezogen ist: statt wie zu 68er Zeiten aus ausrangierten Untergrundbahn-Bänken macht man sich's heute auf Omnibus-Polstern bequem, um von hier aus zum geistigen Höhenflug anzusetzen. Damit ihn aber auch findet, wer schon in den Wolken oder noch im Souterrain sucht, hängt KP Herbach jeden Donnerstagabend ein Schild vors Fenster: „Buchhändlerkeller“ – auf Straßenniveau.
Der Buchhändlerkeller ist eine Berliner Institution, fast wie Hertha BSC oder Friedrich Luft. Doch auch wenn das Kind, das der „Arbeitskreis Berliner Jungbuchhändler e.V.“ 1951 „zur Pflege der Kontakte“ aus der Taufe hob, inzwichen in Ehren ergraut ist, so ist ihm doch die Puste nicht ausgegangen, und seine Geschichte entbehrt der Skandale wie der Pleiten.
Dabei waren die Autorenlesungen anfangs nur sporadisches Rahmenprogramm. Erst die 68er Bewegung öffnete den Keller für ein literarisch interessiertes, zunächst vorwiegend studentisches Publikum. Günter Grass, der in Friedenau wohnte, las in der Görresstraße 90, Peter Schneider, Hans- Christoph Buch, Walter Höllerer, Uwe Johnson, die gesamte Gruppe 47: „Die Autoren, mit denen ich groß geworden bin“, sagt KP Herbach. Selbst ehemaliger Buchhändler, heute Pressereferent der Akademie der Künste, gestaltet er seit über 25 Jahren ehrenamtlich das Programm. Immer mehr Schriftsteller kamen auch, um Kollegen zu hören, der Keller wurde zu einem Ort, wo man sich mit wirklich aktueller Literatur versorgen konnte. Nicht nur die junge Generation der Gruppe 47 trat auf; Günther Eich etwa las zum letzten Mal öffentlich im Buchhändlerkeller; Christoph Meckel, Günter Herburger, Ursula Krechel, Cees Noteboom – wer hier wohnte oder nur auf Durchreise in Berlin war, kam. Seit Ende der sechziger Jahre wurde jede Woche eine Lesung veranstaltet – mit einer einzigen Unterbrechung, als die Baupolizei den alten Keller schloß. Drei Jahre dauerte es, bis das neue Domizil gefunden war.
Das Ritual blieb unverändert; nicht nur der Name war der alte. „Wir haben den Touch der Gründerzeit, ja fast ein wenig Existentialismus herübergerettet“, schwärmt Herbach. Die Kunst- und Ausstellungsplakate an den Wänden, in dicken Schichten übereinandergeklebt, sind ein Sediment des Berliner Kulturlebens seit 1976, dem Umzugsjahr, zugleich dokumentieren sie eine Vorliebe für künstlerische Darstellung nackter Körper: es gibt bei den Lesungen auch etwas zu sehen. Wenn das Publikum in den BVG- Sesseln versinkt und der Barbetrieb verstummt, klappt Herbach das Stehpult auf, welches genau auf der Schwelle zwischen den beiden Erdgeschoßräumen steht, und zieht das Buch des Abends hervor. Einige einführende Worte über den Autor, sei's ein Debütant, sei's ein altbekanntes Gesicht, ehe der Platz auf der Schwelle – denn nur dieser ist dem gesamten Publikum sichtbar – dem Schriftsteller überlassen wird. Eine aufmerksame und vor allem fachkundige Hörerschaft ist dem Vorlesenden hier sicher. Die anschließende Diskussion – früher ein unbedingtes Muß – wird allerdings heute nicht mehr herbeigezwungen. „Wir haben gemerkt, daß die Denkrichtung der Fragen immer ähnlich war und haben drauf verzichtet. Es kann auch passieren, daß man nach einer Lesung das Gefühl hat, man sollte das erstmal ruhig im Kopf bewegen und wenden.“
Anders als die Großinstitutionen wie etwa das Literaturhaus Fasanenstraße orientiert sich der Buchhändlerkeller relativ stark am Markt: er hält nach Neuerscheinungen Ausschau, und zwar gleichermaßen nach neuen Büchern arrivierter wie nach Werken unbekannter AutorInnen. Texte, die noch nicht publiziert sind, kommen jedoch nicht in die Auswahl; die Lektoratsarbeit sollen die Verlage machen. „Wir wollen nicht den ersten Schritt tun, das ist nicht der Ort. Ansonsten wäre die Bude voll mit Unterdurchschnittlichem.“ Allerdings stellt der Buchhändlerkeller mit dem Konzept so viele neue AutorInnen vor wie kein anderer Ort in Berlin. Und es macht KP Herbach immer wieder Spaß, gute AutorInnen frühzeitig, noch vor Reich-Ranicki, zu empfehlen. So kann er sich zugute halten, Urs Widmer und Leonie Ossowski gefördert, Edgar Hilsenrath einen Verlag, Cees Noteboom ein DAAD-Stipendium für Berlin vermittelt zu haben. Nur bei Giwi Margwelaschwili „nehme ich mir übel, daß ich auf den nicht im richtigen Moment geachtet habe“.
Hintergrund dieser Bereitschaft, Neuland zu entdecken: Trotz grundsätzlich freiem Eintritt muß nicht auf den Umsatz geachtet werden. „Wir verdienen nichts und verkaufen auch nichts.“ Die Honorarzahlungen sind seit sechs Jahren durch den Kultursenat gesichert. Für die Mietkosten in hervorragender Citylage im alten Berliner Westen hat man sich etwas einfallen lassen: die Verlage, für die Autorenlesungen ein erheblicher Werbefaktor sind, wurden aufgefordert, eine „Mietpatenschaft“ zu übernehmen. Nach einiger Mühe fanden sich etwa 25 Verlage, die sich nun die Miete teilen – eigentlich alle größeren und mittleren literarischen Verlage des deutschen Sprachraums. Daß eine solche Zahlungsweise viel Mahnen und Bitten erfordert, ist klar. Inzwischen kann man sich mehr erlauben: voriges Jahr mußte KP Herbach einem bekannten Verlag drohen, seine AutorInnen unberücksichtigt zu lassen, bis die Miete bezahlt sei.
Was aber macht das Besondere aus, daß dieser kleine Laden, wo sich zwei, drei Ehrenamtliche engagieren, eine solche Rolle spielt? Garantiert allein das „ius primae noctis“, das Herbach seinen AutorInnen abverlangt, die Trendsetter-Rolle? Die erste Berliner Lesung aus dem neuen Buch eines Autors will KP Herbach bei sich haben – oder keine. „Aber Premieren zu feiern ist schön!“
Das Programm des Buchhändlerkellers konzentiert sich in erster Linie auf Lyrik und Prosa, selten Drama und noch seltener Essay, weil „der immer in Richtung Wissenschaft tendiert; und wir wollen anspruchsvolle Unterhaltung und gehobene Wahrnehmung von Wirklichkeit präsentieren, auch surrealistische Sichtweisen – aber nicht Wissenschaft oder Sachbuch.“
Unter den deutschsprachigen Autoren waren vor allem in früheren Jahren viele aus der DDR, „was schon auch mit meiner Orientierung zu studentenbewegten Zeiten zusammenhängt“. Diese Orientierung hat nicht immer ausgereicht, die DDR-AutorInnen auch als erste zu bekommen. „Rathenow haben wir nicht gekriegt, aber Klaus Schlesinger schon, und Bettina Wegener hat ihren ersten West-Auftritt im Buchhändlerkeller gehabt. Und da haben wir tatsächlich am nächsten Tag eine Rias-Frühkritik bekommen.“
KP Herbach ist sich, durch den langjährigen Erfolg bestätigt, seiner Qualitäten bewußt: seine Entdeckungslust und unermüdliches Engagement wirken auf ihn wie eine Droge. Das Programm hat heute – wie der literarische Markt – weniger politische Schwerpunkte, es dominiert die Suche nach neuen ästhetischen Entwicklungen. Ob KP Herbach es noch weitere 25 Jahre gestalten wird? „Wie lange ist man Jungbuchhändler? Solange ich spannende Autoren finde. Im Grunde genommen macht es mir höllischen Spaß, bis hin zu diesem Detektivischen, zu wissen, wo jetzt gerade ein Autor ist, um ihn vor meinen Kollegen zu kriegen. Nur sonntags rufe ich keine Autoren an.“
Der Buchhändlerkeller ist ein Kleiner im Club der Großen geblieben, sein Etat ist ungleich schmaler als der eines Literarischen Colloquiums, zu dem er in freundschaftlicher Konkurrenz steht; außer den Autorenhonoraren gibt es hier nichts zu verdienen. Dies und die Nähe zu den eigentlichen Produzenten, den Schriftstellern und den Verlagen, macht die sympathische und inspirierende Atmosphäre dieses Ortes aus, gibt ihm den Duft literarischen Neulands, wo trotz aller ästhetischen und (früher mal) politischen Höhenflüge der Bodenkontakt nicht verlorengegangen ist. Die Lage ist bezeichnend: Parterre links.
Der „Buchändlerkeller“ in der Carmerstraße 1, Charlottenburg. Programmabfrage über „Autorenbuchhandlung“, Tel.: 31 01 51
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