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Schöner als die eigenen Träume

■ „Der Tunnel“: Gelungene Premiere der Tanzfabrik im Theater am Halleschen Ufer

So manchen Zugreisenden ist das vertraut: monotones Rattern läßt einen sanft entschlummern, über die Mitreisenden, die Geräusche und Gerüche legt sich ein Schleier, und alles versinkt in einer wilden Mischung aus Traum und Realität. Den Spuren dieser jenseitigen Reisewelt ist Claudia Feest in ihrem Tanzstück „Der Tunnel“ gefolgt, inspiriert von Friedrich Dürenmatts gleichnamiger Erzählung, Hans Henny Jahnns Roman „Die Nacht aus Blei“ und den eigenen langen Zugreisen.

In einer gelungenen Verknüpfung von Tanz, Theater, Gesang, Musik, Malerei und Film läßt sie den Reisenden Matthieu (Jürgen Wink) seine schrillen und zärtlichen, bedrohlich-skurrilen Träume entfalten. Der Blick aus dem Fenster des Zugabteils ist hoch über dem Protagonisten mittels Schwarzweißfilm auf eine weiße Stellwand projiziert: eine aus dem Zugfenster aufgenommene, langsam vorbeiziehende, sich stetig wandelnde Landschaft – Einbruch der realen und doch entrückten Zeit, Anregung zu den Träumen, die sich Matthieus bemächtigen.

Signaltöne geraten ihm zum Alptraum, und aus der eleganten Dame (Sabine Lemke) im weißen Anzug und grün-verwehten Seidenschal, die im Abteil Platz nimmt, wird die Traumfrau: Elvira. Das Grün des Schals verwandelt sich zum hochgeschlossenen, grünen Kleid, das sich wie eine Schlangenhaut um den Körper der Unnahbaren schmiegt. Elvira! – endlich ist sie erschienen, doch berührbar ist sie nicht.

In seinem Mantel wird Matthieu von einem Alter ego (Dieter Heitkamp) gefangengehalten und trotz zappelnder Bemühungen nicht an die Schöne herangelassen. „Ich habe wenig Seele“, raunt deren Stimme aus dem Off, und mit einem kurzen Ruck öffnet sie ihr Kleid vom Hals bis weit unter den Bauchnabel. „Nicht einmal ein Geruch ist von ihr geblieben“, seufzt Matthieu, als er in seinem Abteil wieder zu sich kommt.

Die amerikanische Familie Klein sorgt für ordentlichen Wirbel, nicht nur im Zugabteil. Allen voran die spritzige Gayle Tufts als Mutter, deren dröhnendes Lachen einen glatt vom Parkettsitz fegt. Samt ihrem Anhang, dem niedlich- verschrobenen Mr. Klein (Dieter Heitkamp) und der leicht debilen Tochter Any (Annette Klar) scheint sie einem Comic-Strip à la „Simpson Family“ entsprungen zu sein. Mrs. Klein, stämmig und resolut, „loves travelling“, und wenn sie mit ihrer Familie unterwegs ist, schaukelt es alle drei permanent durcheinander.

Sie singt wunderbare Lieder, balanciert die Reisetruhe auf dem Kopf und sorgt mit Ohnmachtsanfällen für mißverständliche Situationen. Tochter Any liebt Koffer, und derweil Mrs. Klein und Matthieu schlafend aneinandergesunken in einen Traum vom Liebestanz zweier Ableger Matthieus (Norbert Kliesch und Dieter Heitkamp) vertieft sind, marschiert das Töchterchen über die Bühne und sammelt die Gepäckstücke der Reisenden ein. Die „grande dame“ Elvira hält in ihrer Hutschachtel ein langes, weißes Band verborgen, mit dem sie Matthieu an sich ziehen will, der jedoch in letzter Sekunde losläßt und von dem Mrs. Klein später die 1001 Gründe ablesen wird für das „aber“, das jedem „I love you“ folgt.

Mit vielschichtigen, einander überlagernden Bildern hat Claudia Feest eine surreale Welt geschaffen, schöner als die eigenen (Zug)- Träume. Der Schauspieler Jürgen Wink, die Sängerin/Tänzerin Gayle Tufts und die TänzerInnen der Tanzfabrik zeigen sich von ihrer besten Seite, und wer das Reisen liebt („Reisen ist die Lust auf das Fremde in uns selbst“), sollte sich diesen Abend im Theater am Halleschen Ufer nicht entgehen lassen.

Lauter weiße Papierzettel trägt Matthieu in seinem Koffer bei sich und nach einem gelungenen Diebstahl Anys reicht ihm Mr. Klein das letzte Blatt: „Vielleicht werden wir niemals wissen, was uns wirklich zugestoßen ist.“ Michaela Schlagenwerth

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