: Frontschweine, entfesselt
Stanley Kubricks „Fear and Desire“ zum ersten und einzigen Mal in einem deutschen Kino ■ Von Marc Wiese
Ein Alpental: klarer Himmel, bewaldete Hänge und ein paar verstreute Holzhütten. Mit ruhigen, fast idyllischen Landschaftsaufnahmen beginnt und endet „Fear and Desire“, der erste Spielfilm von Stanley Kubrick. Zwischen diesen beiden Einstellungen erweist sich die Ruhe aber schnell als trügerisch. Ein Erzähler erklärt: „Es herrscht Krieg in diesem Wald. Alle Handlungen geschehen außerhalb der Geschichte. Nur die Angst, Begierde, Hoffnung und der Tod sind von dieser Welt.“
Captain Corby, Mac, Fletcher und der junge Sidney befinden sich zehn Kilometer hinter der Front, auf feindlicher Seite. Sie irren in ständiger Angst, entdeckt zu werden, durch den Wald. Bei dem geringsten Geräusch zucken sie zusammen und werfen sich zu Boden. Während des ganzen Filmes versuchen sie auf verschiedenen Wegen ihre eigenen Truppen zu erreichen. Die Kamera dokumentiert mit Großaufnahmen der Gesichter die Furcht der vier Männer. Wie in seinem letzten Film „Full Metal Jacket“ nimmt Kubrick auch in seinem Erstlingswerk Anleihen aus der Wirklichkeit, hier dem Zweiten Weltkrieg. Er macht aber von Anfang an klar, daß es ihm nicht um eine historische Darstellung von Kriegsereignissen geht. Kubrick zeigt vielmehr die Angst der Menschen im Krieg, die sich bis zum Wahsninn und sinnlosen Töten steigert.
Als die Männer eine Hütte entdecken, in der mehrere feindliche Soldaten essen, entlädt sich ihre Anspannung: Corby, Mac und Fletcher ermorden die Wachtposten brutal. Sidney ist entsetzt. Kurz darauf nehmen die vier eine junge Frau gefangen, die sie entdeckt hat. Sidney bleibt mit der Frau alleine. Er spielt ihr Possen vor und giert nach ihrer Zuneigung, bindet sie schließlich los, damit sie ihn umarmen kann. Da sie aber versucht wegzulaufen, erschießt er sie. Über diese Tat verliert er den Verstand.
Mac, 34 Jahre und nie etwas Wichtiges vollbracht, läßt sich erschießen, damit Corby und Fletcher mit einem Flugzeug fliehen können. Die beiden erreichen ihr Truppenlager. Dort taucht am Ende des Films auch der wahnsinnige Sidney wieder auf. Er kommt zusammen mit Macs Leiche auf einem Floß aus dem Nebel getrieben.
Wie alle Filme von Stanley Kubrick hat auch „Fear and Desire“ keine durchgängig transparente Handlung mit logischem Schluß. Im Gegensatz zu seinen späteren Filmen scheint Kubrick der Wirkung seiner Stilmittel allerdings selbst nicht recht zu trauen. Die Bilder sind mit einer Musik unterlegt, die die Dramatik wohl steigern soll, in ihrer Vehemenz aber schlicht nervt. Und wenn Mac vor seiner Selbstopferung im Nebel auf dem Floß steht und über seinen weder bejubelten noch betrauerten Tod nachdenkt, wirkt das Ganze sehr überladen. Hier sollen der BetrachterIn Gefühle mit der Brechstange vermittelt werden. So ist die Geschichte zu dem Film interessanter als der eigentliche Film:
Stanley Kubrick drehte „Fear and Desire“ 1953 in Schwarzweiß. Er übernahm bei seinem ersten 35-mm-Spielfilm Regie, Kamera, Schnitt und Produktion. Am 29.März 1953 fand die Uraufführung in New York statt. Kubrick war mit dem Ergebnis seiner Arbeit aber überhaupt nicht zufrieden. Sein Urteil zu „Fear and Desire“: „Es ist eine 35-mm-Version dessen, was Schüler auf Filmhochschulen in 16mm abliefern.“ Der Perfektionist Kubrick konnte mit den Schwächen seines Debütfilms wie Anschlußfehler und Achsensprünge nicht leben. Er entzog dem Verleih die Aufführungsrechte und vernichtete die Kopien und das Negativ des Films.
Über 35 Jahre waren die Filmhistoriker überzeugt, daß „Fear and Desire“ zerstört sei. Sämtliche AutorInnen von Filmbüchern konnten sich nur auf die alten Rezensionen stützen. 1990 wurde dann plötzlich eine Kopie des Filmes im George Eastman House in New York entdeckt. Der Leiter des Filmarchivs, Jan-Christopher Horak, hatte die Kopie bis dahin unter seinen 14.000 archivierten Filmen schlicht übersehen. Das Eastman House fertigte ein neues Negativ an und zog davon eine Kopie. Seitdem wurde der Film weltweit erst zweimal gezeigt. Die Filmwerkstatt Essen holte den Film letzten Mittwoch zu ihrem zehnjährigen Bestehen für eine Vorführung erstmals nach Deutschland. Kubrick weigert sich zwar weiter beharrlich, über sein Erstlingswerk zu reden, doch Chris Horak sieht das gelassen: „So wie Marlene Dietrich immer behauptet hat, der „Blaue Engel“ sei ihr erster Film gewesen, so versucht auch Stanley Kubrick seine Biographie selbst umzuschreiben.“ Und wie wir wissen, hat Marlene Dietrich vor dem „Blauen Engel“ in etlichen Stummfilmen gespielt.
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